Studentin im Hörsaal

System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung in Deutschland steht vor dem Kollaps

05.09.2024 Kommentare (3)

Wissenschaftler_innen aus unterschiedlichen Disziplinen veröffentlichen Aufruf zum Handeln gegen die „Kita-Krise“
  
Berlin, 05. September 2024. Zustand und Zukunft des Systems der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in Deutschland sind alarmierend. Zahlreiche wissenschaftliche Daten und Berichte aus der Praxis belegen: Das System ist stark belastet und steht kurz vor dem Kollaps.
Vor diesem Hintergrund haben vier Wissenschaftler_innen aus unterschiedlichen Disziplinen Mitte Juli einen Aufruf zum Handeln gegen die „Kita-Krise“ initiiert, der heute mit über 300 Mitzeichnungen veröffentlicht wurde. Der Aufruf „Überlastung, Stress und Erschöpfung in vielen Kitas: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlagen Alarm und fordern die Politik zum schnellen Handeln auf“ richtet sich an politisch Verantwortliche, insbesondere auf Bundesebene.
  
Die vier Initiator_innen des Aufrufs sind Dr. Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Dr. Jörg Maywald, Honorarprofessor für Kinderrechte und Kinderschutz an der Fachhochschule Potsdam, Dr. med. Michael Schulte-Markwort, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medical School Hamburg und Ivonne Zill-Sahm, Professorin für Erziehung und Bildung im frühen Kindesalter an der Evangelischen Hochschule Dresden.
  
„Seit der Corona-Pandemie hat die Arbeitsbelastung von pädagogischen Fachkräften in Kitas stetig zugenommen. Sie gehören zu den Berufsgruppen mit den meisten Krankentagen, insbesondere wegen Erkrankungen der Psyche. Die psychische Gesundheit der Fachkräfte wirkt sich nachweislich auf die Gesundheit der Kinder aus. Die Kinder sind häufig gestresst und zeigen Formen von Erschöpfung und Unwohlsein – und das liegt unter anderem am Personalmangel und an überfüllten Gruppen“, so Prof. Dr. Rahel Dreyer.
  
Dr. med. Michael Schulte-Markwort ergänzt: „Auch in den Familien sind die Belastungen enorm gestiegen. Nach den großen Einschränkungen durch die Kita-Schließungen während der Corona-Pandemie bringt nun die Kitakrise mit reduzierten Öffnungszeiten bis hin zur Schließung von Gruppen und ganzen Einrichtungen viele Familien ans Limit. Es gibt klare Hinweise auf erhöhte Spannungen in den Familien und einen Anstieg familiärer Gewalt.“
  
Der aktuelle Kita-Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes unterstreicht die alarmierende Situation in den Kitas. Er zeigt sehr deutlich, dass sich zwischen 2021 und 2023 die Rahmenbedingungen in den meisten Einrichtungen drastisch verschlechtert haben. 68 Prozent der Befragten können mit dem tatsächlichen Personalschlüssel nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Insbesondere Kitas in benachteiligten Sozialräumen gaben an, davon besonders betroffen zu sein.
  
Prof. Dr. Jörg Maywald: „Die aktuelle Situation widerspricht grundlegend den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern: Kinder brauchen stabile Bezugspersonen in verlässlichen Strukturen, die pädagogisch qualifiziert sind und passgenau auf die individuellen Bildungs- und Entwicklungsbedürfnisse von Kindern eingehen können. Die Folgen für Kinder, Eltern, Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft sind jetzt schon durch eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten sowie eine wachsende Bildungslücke fast irreparabel.“
  
ProfIvonne Zill-Sahm betont: „Um den drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden, sind jetzt erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen für das System der FBBE nötig. Die bildungsökonomische Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass vor allem frühkindliche Bildungsangebote langfristig wirksam sind, weil Kinder davon über ihr gesamtes Leben profitieren. Dies hat auch positive volkswirtschaftliche Auswirkungen, da jeder investierte Euro durch zum Beispiel höhere Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen drei- bis vierfach für die Gesellschaft zurückkommt.“
  
In ihrem Aufruf zum Handeln gegen die „Kita-Krise“ fordern die Initiator_innen, zusätzliche Finanzierungsmittel für weitere Qualitätsverbesserungen aufzuwenden, das Qualitätsentwicklungsgesetz endlich auf den Weg zu bringen und die sogenannte „Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag“ des BMFSFJ um kurzfristige Maßnahmen zu ergänzen sowie mit einem Sondervermögen finanziell ausreichend auszustatten. Außerdem fordern sie, in Bundesländern, wo ein Rückgang der Kinderzahlen zu verzeichnen ist, die freiwerdenden Ressourcen in die Verbesserung des Fachkraft-Kind-Schlüssels zu investieren, Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern, die besonders von sozialer Benachteiligung betroffen sind, personell und materiell besser auszustatten sowie die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung zu stärken, um den Qualitätsprozess kritisch-konstruktiv begleiten zu lassen.
  
  
Für Rückfragen und weitere Auskünfte steht Prof. Dr. Rahel Dreyer zur Verfügung: dreyer@ash-berlin.eu

Quelle: Alice Salomon Hochschule Berlin


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Kommentare (3)

Dr. Erika Butzmann 30 September 2024, 19:47

Bei den Unterzeichnern dieses Aufrufs sind einige sehr kompetente Wissenschaftler, die bisher sich eindeutig gegen eine zu frühe Krippenbetreuung geäußert hatten. Warum nehmen diese heute nicht weiterhin klar Stellung zu diesem Thema? Die Befürchtung, damit in die politisch rechte Ecke gestellt zu werden, ist angesichts des Leids vieler dieser Kinder nicht verständlich und letztendlich als feige zu bezeichnen.

Aloys Gelhaus 13 September 2024, 10:21

Vorweg: Man sollte dem Aufruf mindestens ein Datum mitgeben, damit man ihn auch später noch zeitlich einordnen kann.

Die hochrangigen Experten haben offensichtlich immer noch nicht begriffen, dass das deutsche System Kita gescheitert ist. Sie spielen ein unehrliches Spiel, wenn sie die in den letzten Jahren verschärfte Kita-Notlage mit der Corona-Pandemie verknüpfen. Tatsachen sind doch folgende:
„Nicht angemessene Personalschlüssel“ / „Zeitdruck, Personalmangel und ungünstige Arbeitsbedingungen“ / „Zunahme psychischer Auffälligkeiten“ / „aktuelle Situation widerspricht grundlegend den Grundbedürfnissen und Rechten von Kindern“:
All diese Mängel wurden schon vor über 10 Jahren registriert und haben sich vor allem mit dem weiteren Ausbau, insbesondere der Krippenbetreuung, massiv verstärkt. Hinzuzufügen wäre noch, dass spätestens mit der sogen. „Nachhaltigen Familienpolitik“ ab 2007 und der Expansion der Krippenbetreuung das System Kita ständig unterfinanziert war.

Das Kindeswohl stand eindeutig nie im Vordergrund!

Alle Unterzeichner müssen sich fragen lassen: Woher sollen denn die Fachkräfte kommen?
Von diesen Leuten kann ich verlangen, dass sie mit dem Thema ehrlich umgehen. Aber fordern, wo man vorher weiß, dass aufgrund unseres chronischen Geburtendefizits in den letzten Jahrzehnten die Personen nicht geboren worden sind, die wir jetzt bräuchten, das ist nicht nachvollziehbar! Es sollen nicht 97, sondern lt. verdi.de knapp 97.000 Fachkräfte fehlen!

Unehrlich und die Realität verschleiernd ist es auch, pauschal von „Kita“ bzw. „frühkindliche Bildungsangebote“ zu sprechen. Die Voraussetzungen für Bildungsmaßnahmen, generell für die „Fremdbetreuungstauglichkeit“ sind völlig unterschiedlich bei U-3-Krippenkindern oder Kindergartenkindern. Mit Verweis auf den Kommentar von Frau Dr. Butzmann und den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Entwicklungsschritte der Babys / Kleinkinder in den ersten Jahren (Hirnentwicklung; Stressverarbeitungssystem erst ab drei Jahren mehr oder weniger stabil; Bindungssicherheit; etc.) ist gruppenmäßige Fremdbetreuung in den ersten Lebensjahren besonders problembehaftet.

Seriös ist es auch nicht, „positive volkswirtschaftliche Auswirkungen“ in Aussicht zu stellen. Diese Fachleute müssten wissen, dass Cunha/Heckman ein ganz anderes Fördersystem zugrunde lag. Nobelpreisträger Heckman selbst dazu: Zunächst FAZ.net „Frühkindliche Förderung: Mehr Bildung für die armen Babys“ vom 19.08.2008 „… wäre es ein gravierender Fehler, die Kinder ihrem familiären Umfeld zu entfremden. Ganztagsbetreuung ist in den ersten Jahren nicht die Alternative zum verwahrlosten Umfeld. „Das frühe Familienleben ist heilig“, sagt Heckman. Dementsprechend wurden die Kinder in den Versuchsgruppen auch nur zeitweise in die Vorschule gebracht. Das Wichtigste war: Einmal pro Woche kam die Erzieherin in jede Familie nach Hause.“
Und im ZeitOnline-Inverview „Auf die Familie kommt es an“ vom 20.06.2013 betont Heckman: „Auch ist die elterliche Bindung ein mächtiger Indikator für Fertigkeiten, welche die Kinder später als Erwachsene haben, die Gesundheit eingeschlossen.“; „Bindung und Verständnis sind viel wichtiger für die menschliche Entwicklung als Geld (…). Natürlich hilft Geld, aber die Familie macht den Unterschied aus.“
Und dann folgend „qualitativ hochwertige Bildungs- und Betreuungsangebote“, die es seit über 15 Jahren nicht gibt, als Voraussetzung für den volkswirtschaftlichen Nutzen anzusprechen – das macht mich sprachlos!

Denn die fachlich versierten Unterzeichner müssten wissen, dass die Bund-Länder-Konferenz „schon“ 2014 das „Communiqué - Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern“ verabschiedet hat. Dem folgte im November 2016 der sogen. Zwischenbericht „Frühe Bildung weiterentwickeln und finanziell sichern“ mit klaren Aussagen der Arbeitsgruppe zur Betreuungsqualität bundesweit, und man war sich darin einig: „Die in § 22 a SGB VIII verankerte Verpflichtung zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung sollte in den Kindertageseinrichtungen auf Grundlage ihrer pädagogischen Konzeption konsequent umgesetzt werden. …“. (Nr. 2.3.8).

Das war lange vor Corona! Was haben die Unterzeichner dieses Aufrufes seitdem unternommen, um die Qualität so zu gestalten, damit sie dem elementaren Bedarf der Kinder und Eltern entspricht?

Dr. Erika Butzmann 07 September 2024, 17:34

In diesem Aufruf fehlt das Wesentliche! Es wird weiterhin ignoriert, was der Aufruf zur Wende in der Frühbetreuung mit ebenfalls 200 UnterzeichnerInnen 2020 thematisiert hat: Die Kinder unter 2 sind mit der frühen Krippenbetreuung massiv überfordert aus entwicklungspsychologischen Gründen. Es gibt keine Nachweise für eine frühe Bildung in dieser Zeit, sondern viele Studien, die Verhaltensauffälligkeiten bei diesen Kindern festgestellt haben. Würden erst die zwei bis dreijährigen in die Krippe kommen, wäre viel Personal frei für die Kinder, die in den Familien nicht so gut aufgehoben sind und für die älteren Kinder. Dann ginge es allen Kindern und allen Erzieherinnen besser. Es ist unverständlich, dass die geballte Ladung von wissenschaftlichen ExpertInnen dies nicht zur Kenntnis nimmt.

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