zwei U3 Kinder

Systemische Aufstellungen in der Schule

Hilde von Balluseck/Marianne Franke-Gricksch

05.03.2011 Kommentare (1)

Es gibt viele Methoden, Beziehungen und Konflikte im Team und unter Kindern zu bearbeiten. Eine machtvolle Methode, die auch von einigen Menschen missbräuchlich eingesetzt wird, sind systemische Aufstellungen. Im September 2010 fand in Berlin an der Alice Salomon Hochschule eine erste Tagung statt, die diese Methode aus mancherlei Zwielichtigkeit ins Tageslicht von Wissenschaft und Öffentlichkeit brachte. Mehrere AufstellerInnen hielten Vorträge und praktizierten in Workshops ihren Zugang zu Aufstellungen. Die Vorträge von Holm von Egidy, Heiko Kleve, Albrecht Mahr und Hilde von Balluseck können Sie nachlesen unter socialnet.de/Materialien. Einen Beitrag halten wir für ErzieherInnen für besonders relevant. Er stammt von Marianne Franke-Gricksch (München), die lange als Hauptschullehrerin tätig war. Auch wenn die geschilderten Beispiele nicht in dieser Form in der Kita anzuwenden sind, so ist die Perspektive doch hilfreich.

Von der Körperwahrnehmung zu Grundformen des Familienstellens

von Marianne Franke Gricksch

Neue Fragen schaffen neue Erkenntnisse - Einsichten des Konstruktivismus nutzen

Während meiner Tätigkeit als Lehrerin an Mittel- und Oberstufen einer Hauptschule war es mir zunehmend gelungen, Erkenntnisse des Konstruktivismus umzusetzen und mit den Schülerinnen und Schülern der verschiedenen Klassen zu experimentieren. Meine wesentlichen Fragen lauteten nicht mehr: „Habt ihr die Hausaufgabe gemacht? Habt ihr gelernt? Habt ihr die Prüfung bestanden?“ Die Frage lautete jetzt: „Wie ist es Dir gelungen, die Aufgaben zu bewältigen, die Prüfung zu bestehen?“ Wir hatten ein großes Plakat an einer Klassenwand aufgehängt auf dem stand: Wie gelingt es mir leicht? Viele Kinder ließen sich sogar einen Button drucken mit der Aufschrift: „Es gelingt mir leicht!“ Damit war das Wesentliche ausgedrückt: Die Kinder waren tätig, es sollte gelingen, und es war wichtig, dass es leicht geht. Als Lehrerin fühlte ich den Auftrag, weiter zu machen mit meinen „Forschungen“, wie es den Kindern leicht oder doch zumindest leichter als bisher gelingen könnte, den Anforderungen der LehrerInnen und der Schule, dem gesamten Schulstoff gerecht zu werden - leichter als bisher.

Die Schule liegt in einem sozial gemischten Viertel Münchens. Es lebten dort mehr als 30 Prozent alleinerziehende Mütter, meist Sozialhilfeempfängerinnen, sowie Arbeiterfamilien mit niedrigen Einkünften, hier lagen auch die Unterkünfte der meisten Flüchtlinge aus dem Balkan.

Viele Flüchtlingskinder kamen aus Afghanistan, Pakistan, Äthiopien und aus der ehemaligen DDR, deren Eltern sich zwar gut eingelebt hatten, nicht aber die Kinder selbst.

Ziemlich rasch war allen klar, dass gemeinsames Lernen nur gelingt, wenn man sich selbst und anderen aus der Gruppe vertrauen kann.

Wie konnte das gehen, da unterschiedlichste Vorstellungen von Gut und Böse, von Verteidigungsbereitschaft, von Gewaltbereitschaft und kaum Friedenswille die Kommunikation in der Klasse regierten?

Bald hatte ich erkannt, dass uns nur die Existenz des kleinsten gemeinsamen Nenners – also ein Wissen in unseren Körpern – den Weg zu Übereinstimmungen weisen kann.

In diesen Klassen gab es bei Jungen und Mädchen in Bezug auf ihren Körper bisher sichtbar jedoch nur eine gemeinsame Erfahrung: „Der oder die Stärkste siegt.“

Gab es noch mehr gemeinsames Wissen, das die Kinder aus München, Afghanistan, Bosnien, Leipzig oder Äthiopien in ihren Körpern haben? Darüber sprachen wir in der Klasse und machten uns gemeinsam auf den Weg unserer „Erforschungen“. Das interessierte sie – obwohl ihre Interessengebiete bis dahin eher bei Sex, Crime und Kampf lagen.

Die Musterunterbrechung schafft neues Bewusstsein - Eine körperliche Geste ist für alle verbindlich und drückt die Haltung aus

Viel hatte ich mit den Kindern über Achtung vor Menschen gesprochen, wem sie gut tut, vor wem sie selbst Achtung haben und wie man das ausdrücken kann. Interessanterweise waren es eher die Kinder aus den Ländern im Osten, aus der Türkei, dem Iran, Afghanistan, und auch aus afrikanischen Ländern wie Äthiopien oder Ruanda, die die Geste kannten, die Münchner Kindern im Alltag viel weniger begegnet: die Verneigung. Münchner Kinder sehen sie nur beim Pfarrer in der Kirche, bei Schauspielern oder bei Angestellten im Hotel.

In Bayerischen Klassen muss man vor Unterrichtsbeginn beten. Uns fiel kein Gebet ein, das für alle Schülerinnen und Schüler gleichzeitig gültig war. Muslimische Kinder z.B. beten nicht mit christlichen Kindern gemeinsam. Da probierten wir die Verneigung aus. Erst sorgten täglich jeweils zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, vor Unterrichtsbeginn für Ruhe, und dann verneigten sie sich vor der Klasse.

Ich führte es ihnen genau vor: erst das Kinn auf die Brust fallen lassen, dann mehr und mehr die Schultern nachholen, je nach Tiefe der beabsichtigten Verneigung. Das bewirkte stets eine kleine Stille und eine Stimmung innerhalb der Klassen, die die Kinder selbst als achtungsvoll bezeichneten, sie war täglich von Neuem spürbar,ob bei den 11-Jährigen oder bei den 14-Jährigen.

Auch ich verneigte mich ab und zu vor den Kindern und sagte ihnen: „ Wenn ich mich vor euch verneige, so verneige ich mich auch vor euren Eltern.“ Das konnten sie kaum glauben. Es gab viele Nachfragen auch von seiten der Eltern, ob das wahr sei. Ich konnte es nur bestätigen und erklärte ihnen, dass ich selber Mutter von zwei Kindern sei und genau wisse, was es heißt, Kinder großzuziehen und welche Achtung ich davor habe. Auch ich hatte erlebt, dass Eltern nicht immer wissen, was das Richtige für ihre Kinder ist. Das beruhigte die Eltern, aber auch die Kinder in der Klasse, vor allem jene, die aus schwierigen Verhältnissen stammten und wahrscheinlich annahmen, dass ich ihre Elternhäuser verachten würde, wenn ich all das wüsste, was die Eltern machen. Ich verachtete sie nicht. Ich verneigte mich vor ihnen.

Wir haben uns auch gefragt, ob man es merkt, wenn eine Verneigung nicht ernst gemeint ist, ob sie doch ernst wird, obwohl man sie erst gar nicht ernst meinte, wie eine Verneigung an Stellen wirkt, an denen sie nicht üblich ist, z.B. vor Eltern. Die Kinder probierten es aus und stellten fest, wie schwer es den Eltern fiel, darauf zu reagieren.

Ein Schüler aus München verneigte sich vor seinem Vater und sagte zu ihm: „Unsere Lehrerin hat gesagt, wir sollen uns einmal vor Vater und Mutter verneigen, deshalb habe ich das jetzt gemacht.“ Der Vater war zuerst sehr verlegen, nach einiger Zeit jedoch reagierte er und nahm seinen Jungen in den Arm. Als der Bub mir das erzählte, war er dem Weinen nahe – sehr lange hatte ihn sein Vater nicht mehr in den Arm genommen. Er meinte: „Das hat die Verneigung aus ihm herausgelockt.“

Auch der Vater dieses Jungen war mir gegenüber etwas verlegen, als er beim nächsten Elternabend mit mir darüber gesprochen hat. Erst meinte er, es sei nicht gut gewesen, dass ich seinen Jungen zu einer Verneigung vor ihm ermuntert habe. Doch dann sagte er nach einigem Zögern: „Ich wusste nämlich nicht, ob ich meinen Jungen noch in den Arm nehmen darf. Ich habe ihn sehr oft geschlagen.“

So konnte selbst im familiären Bereich eine Geste der Achtung wie eine Musterunterbrechung wirken und bei diesem Vater ein Bewusstsein über seine Gewaltausbrüche seinem Sohn gegenüber wecken und eine gewisse Scham hervorrufen.

Diese Erfahrung gab mir Mut weiterzuforschen.

Die Stellung der Körper zueinander drückt eine Anerkennung von Ordnungen aus

Anlässlich unserer Erfahrungen mit der Verneigung sprachen wir darüber, wie wir körperlich zu den Eltern stehen.

Wir probierten es mit Stellvertretern aus: einzelne Kinder stellten sich zu einem aus der Klasse selbst ausgewählten Vater-Stellvertreter (Mitschüler): einmal hinter ihn, einmal vor ihn, einmal links, einmal rechts neben ihn. Es ging um die Frage: An welchem Platz fühle ich mich wie Vaters Kind, gibt es einen Platz, an dem ich ihm helfe, gibt es einen Platz, an dem ich mich genau so groß fühle wie er? An welchem Platz stehe ich meist unabsichtlich neben ihm ?

Zu diesen Fragen gab es präzise Aussagen der Kinder. Wann immer sie vor ihrem „Vater-Stellvertreter“ standen, fühlten sie sich wie Kinder. Sie konnten sich dann auch vor ihn hinsetzen. Das Verhältnis Vater:Kind blieb einfach. Manchmal lud ich sie dazu ein zu sagen: „Ich bin dein Kind.“ Manche taten das sogar gerne. Sie nannten das „unser Familienspiel“.

Natürlich gab es auch viele Kinder, die lehnten es ab, sich vor einen Stellvertreter von Vater oder Mutter zu stellen, bzw. zu setzen. Sie stellten sich weit weg oder neben die jeweilige Elternperson. Und immer sagten sie, dann muss ich mich nicht so fühlen wie Vaters Kind oder wie Mutters Kind. Diese Kinder waren meist im Zerwürfnis mit ihren Eltern, was ich oft auch in der Elternsprechstunde erfuhr oder sie waren die „Lieblingskinder“. Es gab welche, die sagten: „Wenn ich mich vor meine Mutter hinstelle, dann fühle ich mich so klein, dann muss ich weinen, das will ich nicht. Ich stell mich neben sie.“ Aber auch die Stellvertreterin der Mutter sagte in solchen Fällen oft: „Ich wollte nicht, dass meine Tochter vor mir steht, da ist sie so klein. Wenn sie neben mir steht, dann fühle ich mich stärker und sie ist größer.“

Ein Vater-Stellvertreter kam zu mir und wunderte sich: „Als ich Olafs Vater war, da fühlte ich mich so fürsorglich, ich hätte den Olaf auch in den Arm nehmen können. Aber er ist ja mein Schulkamerad. Wie gibt es das? Glauben Sie, mein Vater fühlt sich auch so?“

Es waren die ersten Erfahrungen, dass es tatsächlich repräsentierende Wahrnehmungen gibt. Die Kinder achteten zunehmend genauer auf ihre veränderten Gefühle, die sie bald ohne weiteres Zögern der Person zuordnen konnten, die sie repräsentierten.

So ging die Recherche weiter. Wir untersuchten, auf welche Weise Geschwister sich zueinander wohl fühlen. Da entdeckten sie selbst, wie wichtig die Einhaltung der Geschwisterreihe ist. Ein Mädchen erzählte: „Ich bin Mutters Erste, weil ich meiner Omi so ähnlich sehe, die starb, als Mutter ein Kind war. Eigentlich ist meine Schwester die Erstgeborene, sie ist aber sehr böse auf mich und hilft mir nie.“ Da riet ich ihr, doch einmal so nebenbei der Schwester zu sagen: „Ich weiß ja, dass du die Große bist und ich die Kleine.“ Das wirkte Wunder. Sie hatte verbal die Gesetze der Geschwisterreihe anerkannt. Jetzt fühlte sie sich – nach ihrer eigenen Schilderung – viel mehr bei ihrer Schwester und als Kind, nicht mehr so sehr bei Mutter und Großmutter. Wie stolz war sie, als ihre Schwester sie daraufhin zu einem Einkaufsbummel in die Stadt mitgenommen hatte!

Diese Erfahrungen inspirierten uns alle noch mehr nachzuforschen, wie unsere Körper zueinander stehen und welche Gefühle sie dabei auslösen. Ich nehme an, dass wir körperlich ein Grundwissen in uns haben, das uns Gefühle induziert, je nachdem wie wir uns körperlich neben, vor oder hinter Menschen stellen.

Meine Erfahrungen mit den Schulkindern führten mich sehr bald zu der Annahme, dass wir alle unbewusste körperliche Erinnerungen in uns tragen, vielleicht könnte man auch sagen: „Eine Prägung“ durch die Erfahrungen der wichtigsten ersten Beziehungsabläufe mit Mutter, Vater, Großeltern, den Geschwistern.

Und ich gelangte zu einer zweiten Grundannahme: Es muss noch ein unbewusstes Wissen in all unseren Körpern geben, das in uns ein Wohlgefühl auslöst, wenn unsere Körperhaltungen zueinander einer bestimmten Ordnung entsprechen, auch wenn wir selbst das Wohlgefühl in unserem Alltag oft nicht erreichen.

Es folgten viele weitere Versuche mit Schulkindern. Sie hatten großen Spaß dabei. Konnten sie doch selbst entdecken, wie es gelingen kann, ohne Worte, nur indem sie sich anders zu einem Kameraden, ihrer Mutter, ihrem Vater hinstellten, neue Beziehungsgefühle hervorzurufen, ja manchmal sogar die Beziehung zu verändern.

In unserem Familien-Spiel ging es nicht darum, wie die einzelnen Menschen sind, sondern welche Beziehungs-Chemie sich zwischen den beteiligten Repräsentanten einstellt. Durch das Finden eines neuen, guten Platzes in der Aufstellung wurden dann neue Beziehungsqualitäten kreiert, Ablehnung konnte sich in Zuneigung verwandeln, das Gefühl anerkannt zu werden, konnte sich einstellen.

Da erkannten wir, dass wir uns entsprechend einer früh entstandenen Beziehungs-Chemie verhalten – viele Erwachsene, aber auch Kinder glauben dann: „So bin ich eben!“ oder: „So ist unser Nachbar“. Genau das lernten die Kinder infrage zu stellen, manchmal es auch zu ändern.

Wie oft passierte es uns nach diesen Erfahrungen in der Klasse, dass bei der Darstellung eines Konfliktes mithilfe von Repräsentanten einer oder eine rief: „Du musst dich neben deinen Freund stellen, nicht vor ihn, sonst fängt der an zu kämpfen!“, oder: „Stell dich links neben ihn, dann spürt er, dass du anerkennst, dass er älter und stärker ist!“

In vielen Übungen konnten wir erkennen, dass wir auch mit anderen, fremden Menschen immer wieder Beziehungen herstellen, die der Beziehung mit Vater oder Mutter, mit dem einen oder anderen Geschwisterkind, aber auch mit Oma oder Opa, Tanten oder Onkel sehr ähnlich sind. Immer wieder wunderten sich die Kinder, wie genau sie ihren Körper spüren können, wenn sie auf ihre Gefühle vertrauen.

Ordnungen in der Öffentlichkeit weichen von familiären Ordnungen ab - in jedem System gibt es andere Ordnungen

„Was macht ihr denn für komischen Schmarren (Unsinn)?“, fragte ein Schüler, der aus der Parallelklasse kam und nacharbeiten musste. „Wir lernen uns und unseren Körpergefühlen zu vertrauen.“, war die Antwort seines Banknachbarn. Präziser hätte man es nicht ausdrücken können.

Wir sprachen auch über die Beziehung von Schülerinnen und Schülern zu ihren Lehrern. „Wenn Sie vor mir stehen, Frau Franke“, sagte ein Junge einmal, „dann hab“ ich manchmal ähnliche Gefühle wie bei meiner Mutter, und wenn Sie neben mir stehen, dann fühle ich mich ganz anders. Es ist so, dass Sie mir dann irgendwie helfen und ich doch freier bin!“

Das war es! Wir entdeckten, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung ein neues Angebot einer erwachsenen Person an ein Kind ist. Die Kinder gehen dabei ein wenig heraus aus ihrem gewohnten Kind-Sein zu Hause. Ein fremder Erwachsener steht ihnen zur Seite. Wenn es gut geht, lässt sich das Kind von der Lehrerin, dem Lehrer führen, manchmal braucht es nur Begleitung, ein wenig Halt.

Und auf welcher Seite? Die Kinder probierten es aus. Sie konnten es kaum glauben, aber fast alle hatten das Gefühl, dass sie sich von mir mehr sagen lassen, wenn ich rechts von ihnen stand. Wenn ich links stand, ließen sich die meisten nichts sagen, nicht helfen, fühlten sich eher verlassen. Natürlich galt das auch für die ganze Klasse – ich stellte mich von da ab seitlich und vermied es, vor ihnen zu stehen. So gingen unsere Entdeckungen weiter.

Zweierlei Ordnungen leben lernen

Ein Mädchen sagte einmal: „Frau Franke, ich fühle mich genauso groß wie Sie.“ Dabei war sie sehr klein, leistete wenig in der Schule, war oft müde und nicht bei der Sache. Wir alle waren erstaunt. „Also, dann kannst Du mir ja helfen.“, sagte ich und bat sie zu mir ans Pult. Alle kicherten, keiner wusste, wie das ausgehen würde. Ich auch nicht. Sie stand am Pult und an der Tafel herum, machte Tafelanschriften oder ordnete Bücher. Am nächsten Tag wollte sie wieder vorne sein und mir helfen.

Ich hatte über ihr Verhalten nachgedacht: Dieses Mädchen war mit ihrer Familie aus Serbien geflohen. Der Vater lag krank im Bett. Er war schwer kriegsverletzt. Die Mutter durfte inzwischen arbeiten und kam erst um sechs am Abend heim. Das Mädchen war die Älteste von vier Kindern. Sie holte die beiden jüngsten Schwestern vom Hort ab, die andere Schwester war schon in der Schule. Mit ihr machte sie Hausaufgaben, pflegte den Vater, kaufte ein, wusch die Wäsche und bereitete das Essen vor, bis die Mutter kam, und manchmal bügelte sie auch. Sie führte tagsüber den ganzen Haushalt. Kein Wunder, dass sie müde und lernunwillig in der Schule saß und sich doch so groß fühlte wie die Lehrerin. Ich bat sie, über ihre Arbeit, die sie zu Hause zu tun hatte, vor der Klasse zu sprechen. Alle staunten und verstanden. Da sagte ich zu ihr: „Hier in der Klasse sollst du es leichter haben. Du bekommst einen Lernbeistand, du darfst ruhig ein wenig müde sein, dir etwas sagen lassen. Du bist ein Kind und nicht mehr Stellvertreterin deiner Mutter. Lass dich hier klein-schrumpfen.“ Das nahm das Mädchen dankbar auf. Sie war gewürdigt worden und durfte bei uns ein Kind unter Kindern sein.

Grunderfahrungen und Familienordnung

In unseren Untersuchungen gab es immer wieder die Feststellung einzelner Kinder: „Am wichtigsten ist es doch, wie es uns mit unserer Mutter geht, Frau Franke! Ob wir sie anschauen können, ob sie die Arme aufmacht.“ (Das taten die Stellvertreterinnen nämlich sehr oft, jedoch manchmal auch nicht.) Manche sagten: „Der Papa hat meine Mutter verlassen, da war ich noch ganz klein. Dann gehe ich auch nicht mehr zu ihm.“ Sie fanden selbst heraus, dass es der Mutter recht sein muss, wenn das Kind zum Papa gehen, oder vom Papa geliebt werden möchte. Das war eine tiefe Erkenntnis, die unser aller Leben prägt.

In ihrem zunehmenden Vertrauen kamen auch immer wieder Kinder in tiefem Schmerz zu mir, wenn sich die Eltern scheiden lassen wollten. Die Frage, bei wem sie leben würden, zerriss ihnen schier ihr Herz.

In diesen Fällen griff ich auch manchmal ein.

Sie durften jeweils zwei Stellvertreter für Vater und Mutter wählen und einen Stellvertreter / eine Stellvertreterin für sich, der oder die vor den beiden stand. Dann bat ich die Stellvertreterin oder den Stellvertreter für das betroffene Kind zu sagen: „Vater und Mutter, Mutter und Vater – ich bin doch euer Kind!“ Das berührte die beiden Eltern-Stellvertreter sehr. Erst sahen sie nur auf das Kind, und dann sahen sie sich gegenseitig an, was sie vorher gar nicht wollten.

Wir sprachen darüber, dass sie immer die Eltern bleiben, man eine Familie nicht scheiden kann, auch wenn man getrennt lebt.

Also bat ich die Stellvertreterin für das Kind zu sagen: „Einmal habt ihr euch geliebt, und da bin ich gekommen.“ (Das mochten die Kinder sehr gerne, die meisten wussten ja bereits etwas über den Zeugungsvorgang!) Und weiter: „Ich bin doch euer Wunder! Meine Eltern bleibt ihr immer.“ Die Vertreter der Eltern sahen sich meist erschrocken, dann traurig an. Sie berichteten ihre Gefühlsabläufe.

Das betroffene Kind saß jeweils neben mir, manche wollten diese Sätze auch selbst einmal sagen. Dass Kinder ein Wunder sind, leuchtete ihnen bei genauerer Betrachtung ein, doch so hatten sie sich noch nie gesehen.

Ich hoffe Ihnen mit diesem Erfahrungsbericht Anregung gegeben zu haben zu aufmerksamen Selbstbeobachtungen. Wie fühlen Sie sich zu Ihren verschiedenen Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzten, Ihren Kindern und Partnern? Können Sie feststellen und sensibler dafür werden, welche Ihrer eigenen frühkindlichen Grunderfahrungen einem Beziehungsgefühl mit Personen in Ihrem Arbeitsalltag zugrunde liegen – und können Sie dies, falls gewünscht ändern?

Autorin

Marianne Franke-Gricksch
Grund- und Hauptschullehrerin; Aus- und Fortbildungen in Primärtherapie, NLP, Hypnotherapie, systemischer Therapie; Psychologische Beratung
Homepage www.marianne-franke.de

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Kommentare (1)

Neuhof Hans-Jochen 03 Juli 2011, 17:49

Als Lehrer hatte ich bisher auch eher gute „Aufstellungs-Erfahrungen“ mit Schüler/i. gemacht. -
0. Wie sieht aber die Rechtslage aus? Darf ich die Aufstellung überhaupt im Schulbetrieb einsetzen? Manche Kollegen sehen die Aufstellung als Therapie-Methode, die nicht in die Schule gehört!
2.Ich sehe das Aufstellen als pädagogische Methoden-Freiheit, zumal ich auch ausgebildeter Supervisor bin.
Manche Lehrer haben Angst, dass die Schüler während der Aufstellung Themen freilegen, mit denen sie später allein gelassen werden, besonders dann, wenn sie über diese Themen während oder nach der Aufstellung nicht mit mir sprechen.

Mit freundlichem Gruß


Hans-Jochen Neuhof

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