zwei U3 Kinder

Von der Vernetzung zur Kooperation – Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit im Kinderschutz

Christine Gerber, Susanna Lillig

12.06.2014 Kommentare (0)

Im Kinderschutz hat die Diskussion um Kooperation – als Struktur der Zusammenarbeit von Fachkräften im Einzelfall – und Vernetzung – verstanden als Prozess zur Entwicklung verbindlicher Strukturen zur Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen und Professionen (vgl. Krieger 2006a) – mit Einführung des § 8a SGB VIII im Jahr 2005 eine neue Dimension erreicht. Hatte sich Kinderschutz in der Praxis bis dahin als – fast schon hoheitliche Aufgabe – des Jugendamtes entwickelt, so kam mit der Beschreibung eines differenzierten Kinderschutzauftrages der freien Träger eine neue Qualität in die Diskussion und Praxisentwicklung. Die freien Träger, die bis dahin bei dem Verdacht einer Kindeswohlgefährdung umgehend eine „Meldung“ an das Jugendamt gemacht hatten, sollen seither selbst eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, eigene Hilfe anbieten und erst, wenn das nicht möglich oder erfolgreich ist, das Jugendamt hinzuziehen. Nach der Einführung des § 8a SGB VIII wurde daher trägerübergreifend viel über Gefährdungseinschätzung, (anonyme) Fachberatung sowie einen qualifizierten Übergang zwischen freiem und öffentlichem Träger diskutiert.

Einen nächsten Meilenstein bildete der Koalitionsvertrag von 2005. Unter der Überschrift „Frühe Förderung für gefährdete Kinder“ sollte der Kinderschutz durch den „Aufbau von Frühwarnsystemen und frühen Hilfen“ sowie durch eine Verzahnung gesundheitsbezogener und Jugendhilfeleistungen verbessert werden. Fortan standen nicht mehr nur die gefährdeten Kinder im Mittelpunkt des Kinderschutzes, sondern auch Familien, deren psychosoziale Belastungen sich unter Umständen zu einer Gefahr für das Kind entwickeln könnten (präventiver Kinderschutz). Es entstanden vielfältige Initiativen zur Verbesserung der strukturellen Vernetzung von Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe sowie der einzelfallbezogenen Zusammenarbeit zum Wohle von Kindern. Modellprojekte wurden vom Bund gefördert und das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) wurde eingerichtet, um entsprechende Aktivitäten in den Bundesländern zu koordinieren, zu begleiten und zu evaluieren. Gleichzeitig verabschiedeten alle Bundesländer eigene Landesgesetze zur Verbesserung des Kinderschutzes. Elf der 16 Landesgesetze beinhalteten Regelungen zur Stärkung der Kooperation (vgl. Meysen/Eschelbach 2012, S. 35).

Im Mai 2007 veröffentlichten die Jugend- und Familienministerkonferenz und die kommunalen Spitzenverbände schließlich eine gemeinsame Empfehlung, in der sie „das enge Zusammenwirken und die Stärkung von Kooperation der verschiedenen beteiligten Stellen und Personen als ein wesentliches Kriterium für schnellen und wirksamen Schutz“ der Kinder anerkannten (vgl. Meysen/Eschelbach 2012, S. 28).

Der letzte Meilenstein in der Reihe der Aktivitäten zur Verbesserung der Kooperation im Kinderschutz ist das am 1. Januar 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG). In diesem Mantelgesetz werden zwei wichtige Aspekte im Hinblick auf Vernetzung und Kooperation zum Schutz von Kindern eingeführt. Zum einen werden im § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) der Auftrag und die Verantwortung von BerufsgeheimnisträgerInnen, wie beispielsweise ÄrztInnen, LehrerInnen und SuchtberaterInnen, im Kinderschutz konkretisiert, der auch Schnittstellen zum Jugendamt enthält. Zum anderen verpflichtet § 3 Abs. 1 KKG die Länder, „flächendeckende verbindliche Strukturen der Zusammenarbeit der zuständigen Leistungsträger und Institutionen im Kinderschutz“ aufzubauen und weiterzuentwickeln. Im zweiten Absatz werden die konkret zu vernetzenden AkteurInnen aufgezählt – 20 insgesamt.

Trotz all dieser Veränderungen behält das Jugendamt seine zentrale Rolle im Kinderschutz. Es bleibt wichtiger Kooperationspartner in Einzelfällen und erhält die Aufgabe, organisationsübergreifende und interdisziplinäre Netzwerkstrukturen für die Zusammenarbeit im Kinderschutz aufzubauen (§ 3 Abs. 3 KKG).

Interorganisationale Vernetzung und interprofessionelle Kooperation erhielten somit in den vergangenen Jahren eine zentrale Bedeutung, wenn sie nicht sogar die wichtigsten Strategien zur Verbesserung des Schutzes von Kindern in Deutschland geworden sind. Inwieweit allerdings der Aufbau von Netzwerken längerfristig positive Auswirkungen auch auf Fallverläufe im Einzelfall haben wird, muss sich noch zeigen. „Im Moment jedenfalls überwiegen hier Nullbefunde, d.h. Studien, in denen keine Wirkungen der Netzwerkarbeit auf der Einzelfallebene nachgewiesen werden konnten“ (Kindler 2010; Kindler u.a. 2014).

Einblicke in die Praxis der Zusammenarbeit im Kinderschutz

Im Folgenden werden ausgewählte Erkenntnisse aus drei Projekten des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen vorgestellt, die erste Aussagen zum aktuellen Stand und zu noch zu bewältigenden Herausforderungen in der Gestaltung interdisziplinärer und interinstitutioneller Kooperation zulassen.

Kooperation als „programmatische Formel“

Im Rahmen des Projektes „Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ wurden in sechs Kommunen Dokumente und Akten der Kinderschutzarbeit analysiert, Fachkräfteinterviews geführt und zentrale Arbeitsprozesse durch teilnehmende Beobachtung erkundet. Auf allen Datenebenen fanden sich empirische Hinweise für die interorganisationale Zusammenarbeit im Kinderschutz. Auffällig war, dass politisch Verantwortliche und Leitungskräfte offensichtlich anders auf Kooperation blicken als fallzuständige Fachkräfte. Während die einen Kooperation als „programmatische Formel“ nutzen und sie geradezu als den idealen Weg zur Verbesserung der Kinderschutzarbeit beschreiben, schätzen die Fachkräfte die Realität in der konkreten Zusammenarbeit wesentlich zurückhaltender ein und schildern auch kritische Aspekte und Schwierigkeiten. Vernetzung wird in erster Linie durch Vertrags- oder Verfahrenskonzepte auf einer strukturell-planerischen Ebene realisiert, deren Übersetzung in die Praxis einige Probleme aufwirft. So zeigen Erfahrungen der Fachkräfte, wie schwierig es in der konkreten Fallbearbeitung ist, unterschiedliche Erwartungen an das fachliche Handeln der jeweiligen KooperationspartnerInnen in Einklang zu bringen (vgl. Wolff u.a. 2013, S. 174 ff.).

Häufige Kooperation – Verbesserungsmöglichkeiten schon ausgeschöpft?

Zur Unterstützung der Qualitätsentwicklungsbemühungen der Jugendämter im Kinderschutz hat das Nationale Zentrum Frühe Hilfen ein Instrument zur Befragung von MitarbeiterInnen entwickelt, die mit Kinderschutzaufgaben gemäß § 8a Abs.1 SGB VIII betraut sind (vgl. Gerber/Alt 2013). Die Ergebnisse der Befragung spiegeln die subjektiven Einschätzungen von Fachkräften sowohl zu strukturellen, konzeptionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit als auch zu Ergebnissen ihrer Arbeit mit den Familien wider. Die Fragen beziehen sich dabei explizit auf die Arbeit im Kinderschutz im Sinne des § 8a SGB VIII (also nicht auf die präventive Arbeit). In der Feldphase wurde der Fragebogen von 14 interessierten Jugendämtern (mittelgroße Städte und Landkreise) eingesetzt und von insgesamt 348 Fachkräften ausgefüllt. Auch wenn es sich bei den Antworten um die subjektive Sicht der Fachkräfte handelt und obwohl das Instrument nur in Jugendämtern eingesetzt wurde, die sich für diese Form des Einstiegs in einen Qualitätsentwicklungsprozess entschieden haben, liefern die Daten Hinweise, wie Fachkräfte Kooperation erleben und wo sie Verbesserungsbedarf sehen.

Insbesondere mit sechs Institutionen hatten die meisten der 348 befragten Fachkräfte bereits in Kinderschutzfällen kooperiert: ambulante Hilfen zur Erziehung (HzE) (94 %), Schulen (92 %), Polizei (88 %), Familiengericht (89 %), Kindertageseinrichtungen (87 %) und niedergelassene ÄrztInnen (88 %). Auf die Frage, bei welchen Institutionen die Fachkräfte Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Kooperation im Kinderschutz sehen, wurden am häufigsten Schulen (61 %), niedergelassene ÄrztInnen (55 %), Kindertageseinrichtungen (49 %) sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie (43 %) genannt. Insofern sehen die meisten Fachkräfte bei den häufigen KooperationspartnerInnen auch zugleich einen Verbesserungsbedarf in der Zusammenarbeit.

Dass die Kooperation zwischen Jugendämtern und Schulen bzw. Jugendämtern und der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht nur im Kinderschutz von vielen Fachkräften als schwierig erlebt wird, zeigen auch die Ergebnisse des Projektes „Kinder- und Jugendhilfe im Wandel“. So gaben die befragten Jugendämter 2004 den Kooperationserfahrungen mit den Schulen die Note 2,7 (Rang 12) und mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Note 3,1 (Rang 20) (vgl. Pluto u.a. 2007, S. 611). Insofern überrascht das Ergebnis nicht, dass von den befragten JugendamtsmitarbeiterInnen auch für die Kooperation im Kinderschutz ein großer Verbesserungsbedarf gesehen wird. Interessant ist, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Fachkräfte der Meinung ist, dass sie nicht ausreichend über die Zuständigkeiten der Schule (53 %) und der Kinder- und Jugendpsychiatrie (48 %) im Kinderschutz informiert sind. Ebenso sind nur wenige Fachkräfte der Meinung, dass Schule (22 %) oder Kinder- und Jugendpsychiatrie (40 %) über die Aufgaben und Arbeitsweisen des Jugendamtes im Kinderschutz ausreichend informiert sind. Obwohl die Schwierigkeiten in der Kooperation zwischen diesen Institutionen bekannt und thematisiert sind und obwohl vielfältige Bemühungen zur Verbesserung der Kooperation und Information unternommen werden, wird also – zumindest im Hinblick auf den Kinderschutz – das wechselseitige Wissen als zu gering eingeschätzt. Dieser Befund lässt vermuten, dass ausreichendes Wissen voneinander weit mehr ist als das Informiertsein über Zuständigkeiten und Arbeitsweisen. Wird z.B. ein Kind aus einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung entlassen, obwohl vonseiten der Jugendhilfe noch keine geeignete Unterstützung der Familie oder des Kindes zur Verfügung steht, sorgt dies bei Fachkräften im Jugendamt für Unverständnis. Und umgekehrt machen sich Fachkräfte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Sorgen, wenn das Jugendamt nach der Entlassung eines Kindes oder eines/einer Jugendlichen keinen Hilfebedarf mehr sieht und keine entsprechende Hilfe anbietet, die ihrer Ansicht nach zur Nachsorge dringend notwendig wäre. Insofern trägt das Wissen voneinander in der konkreten Kooperation erst dann zur Verbesserung im Kinderschutz bei, wenn es mit dem entsprechenden Verständnis für die unterschiedlichen institutionellen Handlungs- und Entscheidungslogiken verbunden ist und tragfähige Kompromisse im Interesse der KlientInnen gefunden werden können. Dies jedoch setzt intensive Informations- und Aushandlungsprozesse voraus sowie ggf. Veränderungen in beiden Systemen, um die Kooperation im Interesse des Kinderschutzes weiterzuentwickeln.

Seltene Kooperation – Verbesserungsmöglichkeiten schon aufgegeben?

Frauenhäuser (von 55 % der Befragten genannt) und Frauenberatungsstellen/Frauennotrufe (von 17 % der Befragten genannt) spielen als KooperationspartnerInnen im Kinderschutz in der Rangfolge der 20 abgefragten Institutionen eine eher untergeordnete Rolle (Rang 15 und 19). Auch der Verbesserungsbedarf wird von den Fachkräften eher gering eingeschätzt (14 % bzw. 8 %). Gleichzeitig sind nur wenige der befragten Fachkräfte in den Jugendämtern der Meinung, dass sie ausreichend über die Zuständigkeiten von Frauenhäusern (26 %) und von Frauenberatungsstellen/Notrufen (13 %) im Hinblick auf Kinderschutzaufgaben informiert sind. Umgekehrt glauben nur 16 % der befragten Fachkräfte, dass Frauenhäuser bzw. nur 6 %, dass Frauenberatungsstellen/Notrufe über die Aufgaben und Arbeitsweisen des Jugendamtes ausreichend informiert sind. Als schlechter informiert werden nur noch die Jobcenter und die Gerichtsvollzieher eingeschätzt. Auch wenn man unterstellt, dass nicht in allen Kommunen und Landkreisen Einrichtungen zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt vorhanden sind, so geben die Zahlen dennoch Anlass, die Kooperation zwischen Jugendämtern und Frauenunterstützungseinrichtungen genauer zu betrachten. Das Miterleben von Partnerschaftsgewalt ist nicht nur eine Belastung für die Kinder, sondern führt auch häufig zu erheblichen Entwicklungsbeeinträchtigungen. Darüber hinaus erhöht sich das Risiko der Kinder signifikant, selbst misshandelt zu werden (vgl. Kindler 2006, S. 36). Weshalb also spielt die Kooperation zwischen Jugendämtern und Frauenunterstützungseinrichtungen eine vergleichsweise geringe Rolle? Aus welchen Gründen wird, trotz seltener Zusammenarbeit und wenig Wissen voneinander, der Verbesserungsbedarf in der Kooperation als gering eingeschätzt? Eine Hypothese könnte sein, dass der Entwicklung einer guten Kooperation zwischen Frauenunterstützungseinrichtungen und Jugendamt – aufgrund scheinbar unvereinbarer Ziele und Arbeitsweisen – wenig Aussicht auf Erfolg eingeräumt wird. Die Verbindung parteilicher Arbeit für Frauen mit dem Schutz von Kindern wirft unter Umständen so viele Konfliktfelder und potenzielle Schwierigkeiten auf, dass es nahezu chancenlos erscheint, zwischen den beiden „operativen Inseln“ eine stabile Brücke zu bauen (vgl. Schubert 2013, S. 250). Der als gering eingeschätzte Verbesserungsbedarf könnte demnach die Folge der fehlenden Perspektive sein. Was die Ursache für die verhaltene Kooperation zwischen Jugendämtern und Frauenunterstützungseinrichtungen ist, lässt sich auf der Grundlage dieser Zahlen nicht sagen. Vor dem Hintergrund der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz scheint es jedoch angebracht – auf regionaler Ebene –, diese Zahlen zum Anlass zu nehmen und mit den beteiligten AkteurInnen ins Gespräch zu kommen, um gemeinsam über den Schutz von Kindern bei häuslicher Gewalt zu sprechen.

Die Ergebnisse der Befragung von JugendamtsmitarbeiterInnen unterstützen die These, dass die Ähnlichkeit von Organisationen Kooperation wahrscheinlicher macht (vgl. Pluto u.a. 2007, S. 616). Schule, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Frauenunterstützungseinrichtungen haben in ihren Handlungs- und Entscheidungslogiken vermutlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten im Vergleich mit denen eines Jugendamtes. Insofern ist es wahrscheinlich, dass die Gestaltung tragfähiger Kooperationen im Kinderschutz zwischen diesen Institutionen besonders schwierig und aufwendig ist. Kooperation findet jedoch „nicht im kontextfreien, enthierarchisierten Raum statt, sondern soll oftmals dort praktiziert werden, wo Abläufe sich verfestigt haben, Positionen besetzt und verteidigt werden und professionelle Herangehensweisen unterschiedlicher Institutionen eben nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind“ (vgl. van Santen/Seckinger 2003, S. 30).

Gibt es ein „Wir“ in der Fallbearbeitung und wie schafft man das? Oder: Viele HelferInnen sind nicht notwendigerweise vernetzt arbeitende HelferInnen

Ein weiteres Projekt des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen befasst sich mit der Entwicklung geeigneter Methoden zur Rekonstruktion und Analyse problematisch verlaufener Bearbeitungsprozesse von Kinderschutzfällen. Ziel dieses Projektes ist, das „Lernen aus Fehlern“ – als Teil der Qualitätsentwicklung in Organisationen psycho-sozialer Arbeit – mithilfe von dialogischen Rekonstruktions- und Evaluationsprozessen anzuregen und methodisch zu unterstützen. Konzeptionell ist das entwickelte methodische Vorgehen eng an den systemischen Ansatz des Social Care Institute for Excellence in England angelehnt und wurde an deutsche Verhältnisse angepasst.

Eine erste Praxiserprobung konnte bei drei prekär verlaufenen Fällen der Frühen Hilfen in einer deutschen Großstadt durchgeführt werden. Die ausgewählten Fälle wurden organisationsübergreifend und interdisziplinär von Fachkräften aus Gesundheitshilfe, öffentlicher Jugendhilfe und freien Trägern bearbeitet. Im örtlichen Konzept der Frühen Hilfen kommen Familien mit psychosozialen Belastungen über einen zweistufigen Screening-Prozess in Geburtsklinik und Jugendhilfe in das geeignete Hilfearrangement von Gesundheits- und Jugendhilfe. Zu Beginn des Hilfeprozesses findet eine Einschätzung vorhandener familiärer Belastungen und möglicher Risikofaktoren für das neugeborene Kind statt. Der Hilfezugang zu den Frühen Hilfen hat Angebotscharakter und ist für die Eltern freiwillig. Qualität und Intensität des Hilfeprozesses werden mit der Familie im Rahmen der Hilfeplanung vereinbart. In allen drei Fällen wurde ein Hilfekonzept festgelegt, das kindbezogene, auf die Eltern-Kind-Interaktion bezogene sowie alltagspraktische und familienentlastende Ziele umfasste. Die Eltern der neugeborenen Kinder waren zu Beginn der Frühen Hilfen zwischen 18 und 28 Jahre alt und zum Teil schon länger in der Jugendhilfe bekannt. Trotz des Hilferahmens kam es im weiteren Verlauf zu körperlichen Misshandlungen der Kinder – was im Hilfesystem u.a. den Wunsch nach einer kritischen Rekonstruktion des gemeinsamen Arbeitsprozesses erzeugte. Die Rekonstruktionen dieser gemeinsamen Fallbearbeitungsprozesse wurden in einem dialogischen Vorgehen mit allen wesentlich fallbeteiligten Fachkräften aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), der Gesundheitshilfe (Kinderkrankenschwester, sozialpsychiatrischer Dienst) und von freien Trägern (Familienpflege, sozialpädagogische Familienhilfe) durchgeführt. Mögliche Fallstricke in der interdisziplinären Kooperation von Fachkräften des Gesundheitssystems und der Jugendhilfe in der Arbeit mit psychosozial hoch belasteten Familien wurden gemeinsam herausgearbeitet. Diese werden im Folgenden beispielhaft skizziert.

Ungeklärte Hilfeziele und Verantwortungsdiffusion

Formal wurde die interdisziplinäre und organisationsübergreifende Kooperation in allen drei Fällen zu Beginn des Hilfeprozesses festgelegt und durch die Übernahme verschiedener Hilfebereiche (z.B. Geburtsnachsorge durch die Hebamme, Beratung und Organisation materieller Hilfe durch den ASD) begonnen. Fachkräfte aus Gesundheits- und Jugendhilfe schrieben sich jedoch wechselseitig und unausgesprochen bestimmte Aufgabenbereiche in der Fallbearbeitung zu. Fachkräfte der Jugendhilfe gingen implizit davon aus, dass alle Fragen zur gesundheitlichen und medizinisch-therapeutischen Versorgung der Kindesmutter von den KollegInnen der Gesundheitshilfe bearbeitet werden. Analog vermuteten die Fachkräfte der Gesundheitshilfe, dass alle Aspekte der alltagsnahen Unterstützung der Familie durch die Jugendhilfe abgedeckt wären. Es wurde jedoch nicht transparent geklärt, welche Personen tatsächlich mit welchen Aufgaben, Zielen und Ergebnissen mit der Familie arbeiten. Insbesondere blieb damit bei den sehr komplexen Problemlagen offen, wer sich tatsächlich um welche Belange des Kindes und der Eltern kümmert oder kümmern muss. Beispielsweise waren unterschiedliche therapeutische und pädagogische Ziele und Strategien den verschiedenen Fachkräften nicht bekannt und wurden auch nicht miteinander ausgetauscht. So kam es z.B. zu – von den HelferInnen unbemerkten – widersprüchlichen Botschaften an eine psychisch sehr belastete Mutter („Kümmere dich um dich“ vermittelte ihre Therapeutin, „Kümmere dich um dein Kind“ forderte die Jugendhilfe). Weiterhin schien die Vielzahl der beteiligten HelferInnen dazu zu verleiten, sich bei der Problemwahrnehmung und Problembearbeitung unausgesprochen und ungeklärt auf die jeweils anderen Professionen/das Hilfenetz zu verlassen.

Unterschiedliche Risikokonzepte, Instrumente und Verfahren

Dem Helfersystem gelang es nicht, ein gemeinsames Risikoverständnis und darauf aufbauend eine aufeinander abgestimmte Hilfegestaltung verbindlich zu organisieren. Organisationsinterne Beurteilungsinstrumente – wie z.B. Kinderschutzbögen, Formulare zur Hilfeplanung und Hilfeplanüberprüfung – wurden von Jugendhilfe und Gesundheitshilfe innerhalb der eigenen Organisation und für die eigenen Arbeitsprozesse genutzt, aber nicht wechselseitig transparent gemacht und in Bezug auf Inhalte und Hilfeprioritäten aufeinander abgestimmt.

Verantwortungsdelegation für Kinderschutz an den ASD

Es kam zu einer unausgesprochenen Verantwortungsdelegation an den ASD für die Beurteilung einer möglichen Kindeswohlgefährdung. So wurden etwa problematische Verhaltensweisen der Eltern im Umgang mit ihrem Säugling von einer Kinderkrankenschwester beobachtet (z.B. sehr distanzierter und körperlich rigider Umgang mit dem Säugling), aber nicht an den ASD rückgemeldet, da die Fachkraft nicht explizit beauftragt war, die elterlichen Fürsorgefähigkeiten einzuschätzen. Die Zuständigkeit und Kompetenz zur Einschätzung einer möglichen Gefährdung des Kindes lag in ihren Augen beim ASD. Dieser hatte jedoch viel seltener Kontakt mit der Familie und weniger alltagsnahe Beobachtungsmöglichkeiten der Eltern-Kind-Beziehung. Der ASD erhielt die Gesamtverantwortung für den Hilfeprozess, die Gefährdungseinschätzung und die Entscheidung über ggf. nötige Schutzmaßnahmen für ein Kind. Zweifel an der Angemessenheit dieser Einschätzungen – falls vorhanden – wurden nicht nachhaltig eingebracht. Somit konnten mögliche Fehleinschätzungen des ASD keine Korrektur erfahren. Im Helfersystem wurde nicht geklärt, welche kind- und elternbezogenen Informationen für eine Risikoeinschätzung erforderlich sind und insofern kommuniziert werden müssen – wie beispielsweise anhaltende Widerstandsmuster oder Kontaktverweigerung der Eltern, Konflikteskalationen innerhalb der Familie, Veränderungen im Zustand von Hygiene, Ernährung, Befindlichkeit oder Verletzungen von Kindern sowie ständig neu auftauchende Probleme der Familie oder einfach ein „ungutes Bauchgefühl“. Es entstand eine ungünstige Aufgabenteilung zwischen „Hilfe“, die von Fachkräften der freien Träger und der Gesundheitshilfe angeboten wurde, und „Kontrolle“ von möglichen Gefährdungsrisiken für das Kind, die der ASD in erster Linie innehatte.

Kein Ort und keine Zeit für professionsübergreifendes Fallverstehen

Zeit und ein im gemeinsamen Arbeitsprozess strukturell gesicherter Raum für die Erarbeitung eines professionsübergreifenden Fallverstehens und die Reflexion der kind- und familienbezogenen Wirkungen des Hilfeprozesses fehlten. Die Vielzahl involvierter HelferInnen erzeugte die Illusion, dass „im Helfersystem“ sämtliche bedeutsamen Informationen bekannt sind. Verschiedene Kenntnisse über die Familie blieben jedoch auf die verschiedenen Fachkräfte verteilt.

Grundsätzlich gehört es zu den Aufgaben des im Fall federführenden ASD, Helferrunden und Kooperationsgespräche einzuberufen und zu organisieren. Je größer jedoch dessen Arbeitsbelastung war, desto eher entfielen diese fachlichen und interprofessionellen Austausch- und Abstimmungsmöglichkeiten. Helferrunden fanden vorrangig auf dem Hintergrund entstandener Krisen in der Familie mit entsprechendem Handlungsdruck statt – oder gar nicht. Unterschiede in der Problemwahrnehmung wurden eher zufällig deutlich. Unter dem Druck der akuten Krisenbewältigung gelang es nicht, alle relevanten Informationen über die aktuelle Problemlage, den bisherigen Hilfeverlauf und die unterschiedlichen Perspektiven der verschiedenen HelferInnen zu sondieren und im Hinblick auf erwünschte und unerwünschte Wirkungen des bisherigen Hilfeprozesses zu bilanzieren. Das Wissen, die Eindrücke und die Einschätzungen aller Fallbeteiligten wurden nicht systematisch zusammengeführt.

Die Familien- und Hilfegeschichte blieb neuen HelferInnen unbekannt

Das örtliche Hilfearrangement der Frühen Hilfen kann insbesondere Familien mit multiplen Belastungssituationen über einen längeren Zeitraum – bis hin zu mehreren Jahren – professionell begleiten. Im Rahmen eines längeren Hilfeprozesses kommen an unterschiedlichen Zeitpunkten neue Fachkräfte zu dem bestehenden Hilfesystem hinzu – etwa weil es einen weiteren Hilfebedarf in der Familie gibt oder bislang tätige Fachkräfte das Arbeitsfeld wechseln und eine Nachfolge eingesetzt wird, so auch in den hier erwähnten Fallbeispielen. Erfahrungen, bedeutsame Ereignisse, Erfolge oder Misserfolge in der Hilfegeschichte wurden nicht an neue Fachkräfte vermittelt, sodass diese wiederum ihre aktuellen Erfahrungen nicht in einen größeren Hilfekontext einbetten oder ihr fachliches Vorgehen an die Besonderheiten des Familiensystems anpassen konnten. Die Notwendigkeit für diesen Informationstransfer wurde unterschätzt – auch weil für diesen fachlichen Austausch strukturell Gelegenheiten fehlten.

Fazit

Auch wenn die genannten Schwierigkeiten im Kooperationsprozess nicht für alle Netzwerke Früher Hilfen zutreffen mögen, können sie – in der Zusammenschau mit anderen Erkenntnissen aus der Praxis – Hinweise zur Weiterentwicklung fachlicher Kooperationsbezüge in der Kinderschutzarbeit geben.

Damit interorganisationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation prozess- und ergebnisorientiert gelingen kann, erscheint u.a. Folgendes bedeutsam:

  • Kooperation nicht nur als Absicht und programmatische Formel zu formulieren, sondern strukturell die Voraussetzungen dafür zu schaffen – wie z.B. fallunabhängig Gelegenheiten für ein interdisziplinäres Kennenlernen herzustellen, mit wechselseitiger Klärung von Professions- und Organisationslogiken sowie Schnittstellen und Überschneidungen im gemeinsamen Arbeitsprozess. Je unterschiedlicher die Handlungs- und Entscheidungslogiken der beteiligten Organisationen, umso notwendiger und zugleich aufwendiger ist die Verständigung über die konkrete Zusammenarbeit auf der operativen Ebene.
  • Verbindliche Strukturen und Prozesse zur Erzeugung eines gemeinsamen Fallverstehens, eines mehrdimensionalen Risikoverständnisses, der Klärung und ggf. Priorisierung von Hilfezielen, zur Einschätzung der Wirkungen des Hilfearrangements sowie für die Risikokommunikation zu etablieren;
  • das bedeutet auch, eine Diskurskultur zu fördern, in der gezielt nach Unterschieden in Wahrnehmung und Risikobeurteilung gesucht wird.
  • Eine aufeinander bezogene und abgestimmte Verantwortungsübernahme für den Hilfeprozess mit psychosozial hoch belasteten Familien zu klären; für Familie und Fachkräfte sollte transparent sein, welche Ziele von welcher Fachkraft mit welchem fachlichen Vorgehen erreicht werden sollen (vgl. Simon-Stolz u.a. 2013, S. 41).
  • Ein „Informationsmanagement“ zu gestalten, in dem hilferelevante Informationen des Helfersystems – beispielsweise über die bisherige Hilfegeschichte und Kooperationserfahrungen mit der Familie – allen neu in die Fallbearbeitung hinzu kommenden Fachkräften verbindlich vermittelt werden.

Vernetzung und Kooperation sind als bedeutsame Strategien in der konzeptionellen und strukturellen Qualitätsentwicklung der Kinderschutzarbeit angekommen. Nun werden zeitliche Ressourcen, geeignete Kommunikationsstrukturen und alltagstaugliche Verfahrenswege benötigt, um dies auch auf der interdisziplinären und fallbezogenen Ebene umzusetzen.

Quelle: IzKK-Nachrichten

Kontakt
Christine Gerber
Susanna Lillig
Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH)
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Nockherstraße 2
81541 München
Telefon: 089/62306-590
Telefon: 089/62306-599
E-Mail: gerber@dji.de
E-Mail: lillig@dji.de

Literatur

Gerber, Christine/Alt, Christian (2013): „Wie sind wir im Kinderschutz aufgestellt?“ Ein Fragebogen für eine Mitarbeiter/innenbefragung als Selbstevaluations-instrument für Jugendämter im Rahmen der Qualitätsentwicklung im Kinderschutz. In: Das Jugendamt, Jg. 86, Heft 2, S. 58–62

Kindler, Heinz (2010): Empirisch begründete Strategien zur Verbesserung des deutschen Kinderschutzsystems. In: Suess, Gerhard J./Hammer, Wolfgang (Hrsg.): Kinderschutz. Risiken erkennen, Spannungsverhältnisse gestalten. Stuttgart, S. 234–260

Kindler, Heinz (2006): Partnerschaftsgewalt und Beeinträchtigung kindlicher Entwicklung: Ein Forschungsüberblick. In: Kavemann, Barbara/Kreyssig, Ulrike (Hrsg.): Handbuch Kinder und häusliche Gewalt. Wiesbaden, S. 36–53

Kindler, Heinz/Pooch, Marie-Theres/Bertsch, Bianca (2014): Das Bundeskinder-schutzgesetz: Gut gemeint und auch gut gemacht? In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (KJug), Jg. 59, Heft 1, S. 3–7

Krieger, Wolfgang (2006a): Welche Möglichkeiten bieten kooperative Verbund-systeme im Fall einer Kindeswohlgefährdung? In: Kindler, Heinz/Lillig, Susanna/ Blüml, Herbert u.a./Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Kindeswohl-gefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München, Kapitel 106

Krieger, Wolfgang (2006b): Was zeichnet eine funktionale Kooperation zwischen dem ASD und im Einzelfall zuständigen Leistungserbringern aus? In: Kindler, Heinz/Lillig, Susanna/ Blüml, Herbert u.a./Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). München, Kapitel 108

Lenz, Albert (2012): Kooperation und Empowerment bei den Frühen Hilfen. In: Schwerpunktheft „Frühe Hilfen“ der Zeitschrift Prävention, Jg. 35, Heft 4, S. 104–107

Meysen, Thomas/Eschelbach, Diana (2012): Das neue Bundeskinderschutzgesetz. Baden-Baden

Pluto, Liane/Gragert, Nicola/Santen, Eric van u.a. (2007): Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Eine empirische Strukturanalyse. München

Schubert, Herbert (2013): Eckpfeiler gelingender Netzwerke im Kinderschutz. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren (Hrsg.): Aufbruch – Hilfeprozesse gemeinsam neu gestalten. Köln, S. 245–277

Simon-Stolz, Lieselotte/Adolph, Günther/Brill, Joachim (2013): Frühe Hilfen und Frühe Förderung. Entwicklung und Stellenwert im medizinischen Kinderschutz. In: Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, Jg. 16, Heft 1, S. 30–43

Slüter, Ralf (2009): Schwierige Familien – schwierige Helferbeziehungen. Heraus-forderungen für ein gemeinsames Handeln. In: Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren (Hrsg.): Frühe Hilfen. Zugänge schaffen, Hilfen gemeinsam gestalten, Resilienzfaktoren nutzen. Köln, S. 59–61

Santen, Eric van/Seckinger, Mike (2003): Kooperation: Mythos und Realität einer Praxis. Eine empirische Studie zur interinstitutionellen Zusammenarbeit am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe. München

Wolff, Reinhart/Flick, Uwe/Ackermann, Timo u.a. (2013): Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Konzepte, Bedingungen, Ergebnisse. Berlin

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