
Wann ist ein Kind normal? Sinn und Unsinn von Tests und Diagnosen
Heutzutage werden Kinder von Geburt an darauf überprüft, ob sie "normal" sind, d.h. bestimmten Maßstäben für die Entwicklung entsprechen. Vor seinem sechsten Geburtstag erlebt der oder die Kleine 10 Vorsorgeuntersuchungen, im Vorsorgeheft wird genau festgehalten, ob er oder sie in Gewicht und Größe der Norm entspricht. ErzieherInnen unterrichten die Eltern regelmäßig, ob ihr Kind zu schüchtern, zu bewegungsfaul oder in seiner Sprachentwicklung gehemmt ist. Die Angst vor einer gestörten Entwicklung geht um.
Die Folge ist, dass die Grenzen für Normalität immer enger gesteckt werden. Was das heißt? Herumtollen wird schnell zur Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert, Schüchternheit zur sozialen Phobie. Die Verfeinerung der Diagnosinstrumentarien hat zur Folge, dass immer mehr Kinder als auffällig eingestuft werden. Verfeinerung heißt aber nicht unbedingt Verbesserung. Dazu einige Beispiele:
- In deutschen Kitas werden 16 verschiedene Sprachtests angewendet. Von diesen Sprachtests erfüllt nur die Hälfte die Anforderungen, die an ein Sprachscreening gestellt werden müssen.Dies zeigte eine Studie der Universität Köln, bei der die Sprachscreenings auf 32 Qualitätskriterien überprüft wurden.
- Obwohl oder weil die Tests nicht objektiv sind, gelten je nach Bundesland und Verfahren zwischen zehn und 50 % der Kinder als auffällig. Dabei werden aber oft Entwicklungsdefizite gerade bei den 10 % der Kinder nicht erkannt, die dringend einer Förderung bedürfen.
- Beim Sprachtest "Delfin 4" in Nordrhein-Westfalen schwiegen einige Kinder konsequent. Dabei galt jedes vierte Kind als aufflällig,im Zweifel kamen sie in eine Fördermaßnahme. Nach Ansicht von Marcus Hasselhorn, Direktor des Deuschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt, galten auch nach einer Überprüfung der Tests noch zu viele Kinder als auffällig.
- Schon wenn ein Kind mit anderthalb Jahren keinen Wortschatz von 50 Wörtern aufweist, gilt es als Late-Talker und Kinderärzte überlegen, ob es eine Förderung braiucht. Aber auch ErzieherInnen sind mit den Sprachlerntagebüchern und Entwicklungsberichten an der Zunahme von Fördermaßnahmen beteiligt. Die übertriebene "Diagnostizitis" und "Testeritis" führen dazu, dass mehr Kinder in der sprachlichen Förderung sind als erforderlich. Oder glaubt man wirklich, dass 50 % der vierjährigen Jungen sprachlich fehlentwickelt sind? So viele sind bei der AOK in einer logopädischen Behandlung.
- Bei der motorischen Förderung brauchten 50 % der Kinder, die Fördermaßnahmen erhalten, diese nicht.
- Häufig wird Impulsivität als ADHS diagnostiziert. Hasselhorn geht davon aus, dass doppelt so oft das Präparat Ritalin verschrieben wird wie angemessen.
Die Forderung von Hasselhorn lautet: Bessere Tests und sehr qualifiziertes Fachpersonal in die Kitas, damit es nicht zu falschen Schlüssen und zu überflüssigen Therapiemaßnahmen kommt. Dies bedeutet faktisch: In jeder Kita muss es eine spezialisierte Fachkraft geben, die die Sprachentwicklung, und eine, die die motorische Entwicklung beurteilen kann. Dabei sollten den Kindern - so mein Kommentar - auch verzögerte Entwicklungen zugestanden werden, ohne dass sie gleich als "nicht normal" etikettiert werden.
Aber seien wir realistisch: Viele Eltern wollen am liebsten hochbegabte Kinder haben. Und wenn das Kind nicht mal den Durchschnitt erreicht, entsteht Panik: Was soll werden in einer Gesellschaft, in der der Konkurrenzdruck zunimmt und die Kinder - in den meisten Bundesländern - mit 10 sortiert werden nach Gymnasium, Realschule oder Hauptschule?
Alle Details und Zahlen stammen aus dem Artikel von Boris Hänssler "Vermessene Kindheit" in der SZ vom Wochenende.