zwei U3 Kinder

Warum Kinder hyperaktiv reagieren. Antworten auf eine unbewältigbare Wirklichkeit

Salman Ansari

02.02.2013 Kommentare (3)

Sigmund Freuds Feststellung, jedes Zeitalter habe seine eigenen Störungen und Neurosen, scheint sich zu bewahrheiten - damals war es die Hysterie, die heute als Krankheitsbild weitgehend verschwunden ist. Heute sind es Depressionen, Burnout, und nun bei Kindern ADHS, extreme Konzentrationsstörungen, verbunden mit der Unfähigkeit, am Schulunterricht konstruktiv teilzunehmen.

Wenn Eltern und die Gesellschaft die Verabreichung einer Droge zu unbedacht befürworten, dann stehlen sie sich aus der Mitverantwortung für ihre Kinder und überantworten diese einem Betäubungsmittel. Denn Ritalin ist verwandt mit Amphetamin und Heroin. Nicht alle Kinder, die Ritalin schlucken, haben eine genetisch verankerte ADHS . Wie oft habe ich beobachtet, dass Kinder mit einer ADHS Diagnose im Verlaufe von wenigen Jahren sich ohne Ritalin beruhigten. Sie hatten das Glück, beruhigende Erfahrungen zu machen. Um solche Erfahrungen machen zu können brauchen Kinder Zeit und eine Umgebung, die sie nicht gleich stigmatisiert und ihnen somit die Chance einräumt, sich nach ihrem eigenen inneren Tempo zu entwickeln.

Wenn Jugendliche mit Unruhe verbreitender Aggressivität, Agilität und Nervosität auf die Anforderungen ihrer Umwelt reagieren, dann ist ihr Verhalten zugleich eine Antwort auf die Unzumutbarkeiten einer Wirklichkeit, der sie sich nicht entziehen können.  Kinder sind permanent umgeben von Lärm und Hektik. Hinzu kommen ständig wechselnde Reize, ununterbrochene, verwirrende Wechsel zwischen realen und virtuellen Geschehnissen. Kinder nehmen teil an all den Bildern globaler Katastrophen und Informationen und werden somit Zeugen von Gewalt, von Mord und Krieg, von Geschehnissen, die sie noch gar nicht einordnen und verkraften können. Sie erleben zunehmend verbale Gewalt, die den alltäglichen Umgang vieler Erwachsenen mit ihren Mitmenschen kennzeichnet, sich aber auch in  diversen Filmen, z.B. in den täglich auf allen Kanälen des Fernsehens zu besten Sendezeiten ausgestrahlten Krimis manifestiert. Die Welt der Erwachsenen bietet den Jugendlichen wenig an Vorbildern und nachahmenswerten Ritualen, die auf die Sinne beruhigend und Vertrauen erweckend wirken und Geborgenheit vermitteln könnten. Hinzu kommt, dass die Eltern oft überzogene Anforderungen an ihre Kinder stellen und von ihnen herausragende Leistungen erwarten.

Im Kindergarten erfahren Kinder von Erwachsenen in den meisten Fällen Zuwendung, Ermutigung und respektvolle Wahrnehmung ihrer Individualität. In der Grundschule sind sie jedoch in der Regel reduziert auf die Kategorien „gute“ oder „schlechte“ Lerner. Dabei müssen sie sich einem Curriculum unterwerfen, das keinen Raum für ihre altersgemäßen Bedürfnisse und Erfahrungsmöglichkeiten zulässt. Denn in der Schule besteht oft wenig Interesse an den eigenen Vorstellungen der Lernenden über Sachverhalte, die sie bewältigen müssen. Sie haben dann keine Möglichkeit mehr, die Welt auf ihre Art zu ergründen, sondern werden zu Konsumenten von Werten erzogen, die Erwachsene für sie ausgedacht haben.

Unter solchen Bedingungen ist es fast ein Wunder, dass so viele Jugendliche es  dennoch schaffen, den Anforderungen des Alltags zu entsprechen, ohne neurotisch zu werden.  

Ich arbeite seit vielen Jahren mit Kindergarten- und Grundschulkindern zusammen.  Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen frage ich mich, wie viel Zeit ein Kind noch haben darf, um zu spielen und seine Fantasie zu entfalten, wenn seine Persönlichkeit  durch seine schulischen Leistungen definiert wird. Die Schulerfahrung vieler Kinder kommt  einem Gefühl von Versagen gleich. Die Belehrungspädagogik betrifft allerdings nicht mehr nur die Schulen. Seit einigen Jahren gibt es auch für Kindergärten Bildungspläne. In Rahmen dieser Pläne taucht auch das Bekenntnis auf, dass das kindgemäße Lernen das Spiel sei. Doch wo sollen die Kinder die Zeit zum Spielen hernehmen, wenn sie gleichzeitig all die Kompetenzen erwerben sollen, die diese „Bildungspläne" propagieren.

Die Frage ist, wie der Schulunterricht eine Umgebung schaffen könnte, die Kindern Möglichkeiten bietet und sie dabei begleitet, sich nach ihrem eigenen Rhythmus, nach ihren eigenen Vorerfahrungen und Vorstellungen, ihren Interessen zu entwickeln, ohne der Leistung den ersten Platz einzuräumen.

Hierzu eine Beobachtung: 

In jeder Pause rennt Katharina  hinaus auf den Spielplatz der Schule. Dort beobachtet sie gespannt, wie ein Junge mit sieben Bällen meisterhaft jongliert. Nachdem sie ihn einige Zeit beobachtet hat, erscheint sie mit drei Tennisbällen und fängt einfach an. Sie nimmt das Misslingen ohne ein Anzeichen von Frustration oder Verzagtheit hin, als wüsste sie schon im Voraus, dass das Beherrschen einer Fertigkeit Arbeit voraussetzt. Katharina ist dabei, sich neue Kompetenzen anzueignen, und Kompetenz bedeutet stets, etwas zu beherrschen, setzt also ein Können voraus. Katharina muss Bewegungsabläufe koordinieren, rhythmisieren, Körperbeherrschung lernen. Mit jedem weiteren Tag schärft sie deutlich erkennbar ihre Sinneswahrnehmung und steigert sich in ihrer Konzentrationsfähigkeit. Ein Aufgeben bzw. Scheitern steht für sie außer Frage. Denn mit jedem weiteren Tag verspürt sie einen Fortschritt und somit die Ermutigung, dabei zu bleiben.  Katharina möchte eine Kunstfertigkeit beherrschen, unter Kontrolle bringen. Sie muss zugleich auch ihre Emotionen kontrollieren lernen; sie muss geduldig Fehlschläge und Frustrationen hinnehmen. Mit jedem Scheitern lernt sie intuitiv, wie sie es besser machen soll und somit auch jene Regeln, die ein Gelingen ermöglichen.

 Ich habe Katharina damals nicht unterrichtet,  sprach jedoch über sie mit ihrer Klassenlehrerin. Im Unterricht sei Katharinas Verhalten leider nicht von jenen Tugenden gekennzeichnet, die ich bei ihr beim Jonglieren entdeckt hätte, meinte die Klassenlehrerin. Katharina sei auffällig unruhig und würde auch andere mit ihrer Unruhe anstecken.  

Was ist da passiert? Katharina beherrschte doch alle Instrumentarien zum erfolgreichen Lernen. Wieso entfalteten diese sich nicht im Klassenraum? 

Salman Ansari ist promovierter Chemiker mit pädagogischer Erfahrung in der Vermittlung naturwissenschaftlichen Grundwissens in Schule, Kindergarten und Erwachsenenbildung. Er ist Dozent und Buchautor.

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Kommentare (3)

Hilde Sauer 08 März 2013, 19:21

Wem dient dieses „Ruhigstellen“ der Kinder mit Ritalin? Damit sie sich in der Schule angepasst verhalten, im Hort nicht stören, daheim nicht nerven...?
Wer weiß, was sie statt dessen brauchen?
Ist es nicht das Wahrgenommen, Verstanden werden, Bewegung statt still sitzen, das den inneren Ausgleich bringt? Meine Erfahrungen hierzu: „ich helfe dir, dich selbst zu halten“...

Salman Ansari 08 Februar 2013, 12:19

Selbst wenn man der Meinung ist, Ritalin sei nur mit Amphetamin verwandt, dann reicht dies doch auch, die Verabreichung der Substanz als höchst fragwürdig zu erachten. Wir wissen, dass jede Droge eine Manipulation des Gehirnes zur Folge hat, und schwerwiegende psychische Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen werden können. Wenn eine Gesellschaft zur Bewältigung eines Problems auf ihre potenziellen sozialen Kompetenzen verzichtet und stattdessen eine chemische Substanz zur Hilfe ruft, dann gibt sie gleichsam ihre Ohnmacht zu.
Von Ideologie halte ich mich fern. Ich spreche aus der Erfahrung, die ich als Pädagoge im Rahmen von nun fast vierzig Jahren gemacht habe.
Der Schluss des Artikels ist als Frage formuliert, weil die Antwort evident ist.

Andreas Linz 03 Februar 2013, 20:18

Zunächst ist Ritalin zwar mit Amphetamin, aber nicht mit Heroin verwandt. Welche Aussage ist damit verbunden; soll sie nur Angst schüren? Seriös wäre es auch gewesen, wenn nicht der Eindruck erweckt würde, Ritalin sei die einzige Behandlung von ADHS. Ganz im Gegenteil steht die medikamentöse Therapie nur unterstützend nicht aber als alleinige Behandlung neben, pädagogischer und verhaltenstherapeutischer Hilfe.

Dann hätte ich aber auch mehr als nur eine Behauptung erwartet.

„Unter solchen Bedingungen ist es fast ein Wunder, dass so viele Jugendliche es dennoch schaffen, den Anforderungen des Alltags zu entsprechen, ohne neurotisch zu werden.“

Welche Ressourcen stehen den Kindern und Jugendlichen, die es dennoch schaffen zur Verfügung, die Wirklichkeit zu bewältigen? Es erscheint mir sinnvoller dieser Frage unter dem Gesichtspunkt der Salutogenese (Entstehung von Gesundheit) nachzugehen, als es als Wunder der Mystik anheim zu stellen.

Auch die Beobachtung am Ende des Artikels bleibt ohne Schlußfolgerung, als bliebe es dem Leser überlassen hier eine Antwort zu geben. Wenn dem so ist, dann wäre dem Titel vielleicht der Zusatz „Zur Diskussion:“ vorangestellt besser gewesen.

Insgesamt betrachte ich den Beitrag als im Ansatz guten Gedanken mit leider einer vagen Tendenz zur Ideologie bzgl. der medikamentösen Therapie.

LG Andreas Linz

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