Was bedeutet die frühe Krippenbetreuung für die Entwicklung der Kinder?
Inhalt- Die psycho-soziale und kognitive Entwicklung beim 1- bis 2-jährigen Kind oder Welche Bedürfnisse hat das kleine Kind?
- Was passiert mit diesen Entwicklungsmerkmalen bei einer frühen vielstündige Krippen- und Fremdbetreuung?
- Literatur:
Seit Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz für die einjährigen Kinder im Jahr 2013 wird öffentlich ständig propagiert, dass dies im Sinne der Kinder sei, da sie dort gebildet werden und schon früh sozial lernen können. Der Nachweis dafür ist bis heute nicht erbracht, ebenso wenig wie hinterfragt wurde, ob die frühe Krippenbetreuung für Kleinstkinder überhaupt verträglich ist. Die Vielzahl der Studien, die negative Auswirkungen nachweisen, werden nicht zur Kenntnis genommen. Auch die aktuelle prekäre Betreuungssituation, die in erster Linie zu Lasten der Kinder geht, führt nicht zum Nachdenken darüber, was das wohl mit den Kindern macht. So entsteht zwangsläufig der Eindruck, dass nicht bekannt ist, welche emotionalen Bedürfnisse Kleinstkinder haben und wie wenig die mit der frühen Fremdbetreuung kompatibel sind.
Aus diesem Grund werden im folgenden die besonderen Merkmale der frühen Entwicklung dargestellt, um aufzuzeigen, wie sehr die Entfaltung des ganzen Entwicklungspotentials beim Kind auf die Anwesenheit und Zuneigung der Eltern angewiesen ist. In einem zweiten Schritt werden diese Merkmale auf eine frühe Krippen- und Fremdbetreuung bezogen, um deutlich zu machen, wie dieses Entwicklungspotential durch eine zu frühe Trennung des Kindes von den Eltern eingeschränkt oder je nach Umständen gar nicht ausgebildet werden kann.
Die psycho-soziale und kognitive Entwicklung beim 1- bis 2-jährigen Kind oder Welche Bedürfnisse hat das kleine Kind?
Mit der Gehirnentwicklung im Mutterleib beginnt das Kind zu lernen. Nach der Geburt führt das anfangs reflexhafte Lernen nach wenigen Wochen zu absichtsvollem Handeln, das begleitet ist von unbändiger Freude und Neugier - denn das ist der Motor der Entwicklung. Die innige Verbindung mit der Mutter während der Schwangerschaft wird vom Baby weiterhin als gegeben betrachtet, es empfindet sich bis ungefähr zum 6. Monat als eine Einheit mit der Mutter, es erlebt die Mutter wie ein Teil von sich selbst. Selbst das Herz-Kreislauf-System und der Hormonspiegel sind in dieser Zeit synchron (Edert 2012, Henzinger 2017).
In den ersten zwei bis drei Monaten nimmt das Kind die Mutter vorwiegend über den Geruch und das vertraute Gefühl wahr. Sehr bald kann es den Blickkontakt herstellen, erkennt die Einzelheiten des Gesichts jedoch nur diffus. Das genaue Erkennen des Gesichts der Mutter ist zwischen 4 und 5 Monaten möglich, denn zu dieser Zeit entwickelt sich die Makula im Auge, der Punkt des schärfsten Sehens. Kurzfristig zeigen Babys danach in unterschiedlichem Ausmaß Angst vor Fremden, weil sie ein fremdes Gesicht jetzt deutlicher wahrnehmen als zuvor. Ähnliches Verhalten zeigen Babys mit 3 bis 4 Monaten in Bezug auf das Gehör. Dies ist dann vollständig funktionsfähig und dann erschrecken sie plötzlich bei Geräuschen, auf die sie vorher kaum reagiert haben. Wenn die Fremdel-Phase vorbei ist, interessiert sich das Kind für Fremde, wenn es ihm gutgeht.
In der Folgezeit bekommt das Baby eine erste Ahnung davon, dass die Einheit mit der Mutter nicht sicher ist. Dies wird ihm deutlich, wenn es sich selbstständig fortbewegt durch Wegrollen, Robben und Krabbeln. Das ist sehr aufregend und spannend für das Kind, es spürt aber gleichzeitig zum ersten Mal Trennungsängste, wenn es die Mutter nicht mehr sieht oder hört. Es versucht dann mit allen Mitteln, die Einheit mit der Mutter wiederherzustellen.
Das je nach Temperament heftige Angstverhalten kommt zustande, weil das Baby zu diesem Zeitpunkt noch kein Vorstellungsgedächtnis hat. Das heißt, es hat noch kein inneres Bild von der Mutter, das es sich vorstellen kann, wenn diese nicht anwesend ist. Es erkennt in dieser Zeit lediglich die Mutter/den Vater wieder, wenn diese wieder auftauchen.
Ist die Mutter also nicht zu sehen oder zu hören, ist sie für das Kind weg aus seiner Welt. Die Angst kann in Panik ausarten, weil sich das Kind völlig alleingelassen fühlt. Nichts erzeugt so viel Stress im Gehirn eines Kleinkindes, wie das Verschwinden der Mutter (Hüther 2003). Die Reaktionen der Kinder im Alter zwischen 8 und 18 (häufig bis 24/28) Monaten sind dann verständlich: Sie stehen schreiend vor der Toilettentür, wenn die Mutter dahinter verschwindet, sie krabbeln und laufen ihr überall hinterher und bekommen Schreianfälle, wenn diese das Haus verlässt, auch wenn eine andere Betreuungsperson da ist. Nicht alle Kinder reagieren so stark. Am stärksten davon betroffen sind diejenigen, die nicht den Schutz eines außenorientierten, also auch weitgehend angstfreien Temperaments haben.
Die Psychologin Christine Rankl beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: Das innere Bild der Mutter/des Vaters ist in dieser Zeit schwach ausgeprägt, vergleichbar mit einer Strichzeichnung im Sand. Dieses Bild ist nur so lange sichtbar, wie kein Wind aufkommt, also nur für kurze Zeit. Aufregung oder Müdigkeit lassen das Bild verschwinden. Deshalb muss das Kind sich immer wieder vergewissern, ob die Mutter da ist. Es dauert in der Regel zwei Jahre, bis die Fähigkeit, innere Bilder von den Eltern dauerhaft hervorrufen zu können, voll ausgebildet ist. Auch danach ist das sogenannte Vorstellungsgedächtnis nicht in allen Situationen funktionsfähig. Unter Stress verschwinden die inneren Bilder. Erst mit drei Jahren ist das Bild von den Eltern bei den meisten Kindern wirklich stabil und belastbar fixiert. Darum gilt dieses Alter auch als ideal für den Eintritt in den Kindergarten! (Rankl 2005, S. 161).
In der fachöffentlichen Diskussion zu diesem Thema gibt es immer wieder die Behauptung, dass Kinder schon im ersten Lebensjahr Vorstellungen entwickeln, weil sie sich bereits vor dem ersten Geburtstag an Gegenstände erinnern, die sie nicht vor Augen haben, wie z. B. die Quietsche-Ente im Badezimmer. Unterschlagen wird dabei, dass die Entwicklung des Vorstellungsgedächtnisses mit dem Erinnern an Gegenstände nicht abgeschlossen ist. Mit ungefähr einem Jahr ist das innere Bild ein statisches: d. h. das Kind sieht das Badezimmer vor sich und die gelbe Ente auf dem Wannenrand. Sich ständig bewegende und äußerlich sich oft verändernde Objekte wie Mama und Papa lassen sich nicht so einfach als Bild speichern. Es sind anfangs mehrere Bilder, die zu einem einzigen zusammengefügt werden müssen. Das dauert mehr als zwei Jahre, bis das Kind das kann, und darin liegt das Problem. (Piaget 1990, S. 477) Die meisten Eltern kennen das; denn wenn sie einmal anders aussehen (nasse Haare, andere Frisur usw.), reagieren viele der Ein- bis Zweijährigen sonderbar darauf.
Das Vollbild des geschilderten Angstverhaltens zeigen in erster Linie die Kinder mit einem eher angstbereiten, empfindsamen, sensiblen Temperament. Die anderen lassen sich mehr oder weniger schnell und gut beruhigen. Die außenorientierten und gegenstandsbezogenen Kinder bemerken im Spiel die Abwesenheit der Mutter oft erst bei Missgeschicken oder Müdigkeit. Es gibt jedoch nur wenige Kinder, die diese Trennungs- und Verlassenheitsangst gar nicht zeigen. Solche Kinder sind stark außenorientiert, haben keine erkennbaren Ängste, neigen aber schnell zu Wutanfällen. Nach Aussagen der Neurobiologin Nicole Strüber (2016) ist dafür eine bestimmte Genvariante verantwortlich, die bei ca. 12 % der Kinder eines Jahrgangs vorliegt.
In dieser Zeit, d.h. zwischen 8 und 24 Monaten, stabilisiert sich die intensive emotionale Bindung des Kindes an die Eltern. Dabei kommt es immer wieder zu Situationen, in denen das Kind sich besonders an der Mutter festklammert; denn Klammerverhalten ist Bindungsverhalten. Das Kind versucht damit unbewusst, die Einheit mit der Mutter wieder herzustellen, wenn es die Trennung bemerkt. Gelingt dies, weil die Mutter zur Verfügung steht, entwickelt sich das notwendige Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl, das die Neugier auf diese Welt in höchstem Maße fördert und die Entwicklung vorantreibt. Dies führt also nicht zur Verwöhnung des Kindes, sondern hilft ihm, die erkenntnismäßige Trennung von der Mutter im Laufe der nächsten Monate zu akzeptieren und zu ertragen, weil es die Sicherheit erworben hat, dass die Mutter da ist, wenn das Kind sie braucht. Dieser Prozess kann sich unter Umständen auch auf den Vater beziehen.
Wenn also die Eltern weitgehend feinfühlig (auf die Signale des Kindes eingehend, es nicht überfordernd) und liebevoll mit dem Kind umgegangen sind und die Mutter (der Vater) meistens verfügbar war, kommt die für das ganze Leben wichtige und tragende sichere Eltern-Kind-Bindung zustande. Diese sichere Bindung ist die Grundlage für Bildung im umfassenden Sinne. Unter solch positiven Bedingungen ist das Kind hoch motiviert, seine Umgebung zu erkunden und zu spielen, wodurch sich alle späteren Fähigkeiten in ersten Ansätzen ausbilden.
Da die erkenntnismäßige Trennung von der Mutter geschieht, hat der Vater während der Zeit der entwicklungsbedingten Trennungs- und Verlassenheitsängste oft keine Chance, das Kind zu trösten, wenn die Mutter anwesend ist. Es gelingt ihm jedoch meistens, wenn er mit dem Kind allein ist.
Das hat weder etwas mit dem Verhalten des Vaters noch der Mutter zu tun. Es liegt ausschließlich daran, dass das Kind die zunehmende Erkenntnis verarbeiten muss, von der Mutter getrennt und ein eigenständiges Wesen zu sein. Der Vater kann den Prozess unterstützen, indem er sich von Anfang an mit dem Kind beschäftigt, mit ihm herumbalgt und spielt. Darüber entwickelt sich die Bindung des Kindes an den Vater, die es leichter macht, die erkenntnismäßige (also nicht gefühlsmäßige) Trennung von der Mutter zu bewältigen. Das zeigt jedoch auch, dass die Mutter für die meisten Kinder die primäre Bindungsperson ist. Die Bindung an den Vater verläuft parallel. Die anderen Personen sind nachgeordnet, sie haben für das Kind nicht die hohe Bedeutung, wie die Eltern sie haben. Diese Personen stabilisieren das sicher gebundene Kind jedoch zusätzlich.
Die sich öffentlich äußernden Wissenschaftler/innen gehen davon aus, dass die Bindungsentwicklung mit einem Jahr beim Kind abgeschlossen ist, weil man zu diesem Zeitpunkt das Bindungsverhalten in Laborsituationen erkennt. Das ist ein verhängnisvoller Trugschluss, denn die Bindung ist erst mit der Ausbildung des Vorstellungsgedächtnisses einigermaßen stabil. Dann weiß das Kind, wo die Mutter ist und dass sie immer wiederkommt. Das ist erst zwischen eineinhalb und zwei Jahren der Fall, nämlich dann, wenn das Kind zu sprechen beginnt und „ich“ zu sich selbst sagt.
Parallel zur Bindungsentwicklung und auf dieser Grundlage macht das Kind mit ungefähr einem Jahr einen starken Entwicklungssprung. Es kann laufen und gerät dabei in eine Art Hochstimmung, weil es plötzlich so viel Neues über sich und die Umwelt wahrnimmt. Psychoanalytiker nennen diese Zeit die Liebesaffäre des Kindes mit der Welt (Kaplan 1987). Damit ein solches Gefühl vom Kind erlebt werden kann, muss die Mutter als Sicherheitsbasis im Hintergrund zur Verfügung stehen; denn bei jedem Missgeschick sucht das Kind nur sie.
Die sichere Bindung an die Eltern ist die Basis für den unbändigen Willen des Kindes, seine Umgebung zu erkunden. Das Kind ist ständig in Bewegung, fasst alles an, manipuliert alles Greifbare, ahmt seine Bezugspersonen ständig nach, probiert seinen Körper aus - solange es Energie hat. Das ist die Zeit der intensiven senso-motorischen Entwicklung, d. h. alles mit den Sinnen und über die Bewegung Wahrgenommene führt zusammen mit der Nachahmung zur Ausbildung der Gehirnstrukturen, die am Ende des zweiten Lebensjahres Vorstellungsgedächtnis, Denken und Sprache ermöglichen - also die Grundlagen der Intelligenz!
Wenn also die Entdeckungsfreude des Kindes möglichst wenig eingeschränkt wird und Mutter oder Vater als Sicherheitsbasis meistens vorhanden sind, bilden sich über diese Tätigkeiten ohne gezielte Förderung die Grundlagen zu allen wesentlichen Fähigkeiten aus, und zwar:
- das Verständnis von Ich und Außenwelt
- das Verständnis von Objekten (welche Eigenschaften haben diese?)
- die Ausbildung von Konzepten von Raum, Zeit und Kausalität (d. h. Raumverständnis über die Bewegung durch den Raum / Zeitverständnis z.B. über die Wahrnehmung der Dauer, bis der Ball ankommt / Kausalität über: was passiert, wenn...)
- die Ausbildung einfacher Vorbegriffe von Klassen, also einfache Ordnungsvorstellungen (über das Feststellen von Unterschieden bei Formen)
- sowie das Sprachverständnis
All das passiert ausschließlich über das weitgehend ungestörte selbstbestimmte Spiel des Kindes.
Unter der Bedingung, dass sich das Kind sicher und geborgen fühlt, geschieht diese Entwicklung von ganz allein. Die normalen Dinge in einem Haushalt (Wäscheklammern, Behälter, Schachteln usw.) reichen neben einigen wenigen Spielsachen dafür aus (Rehm 2021). Der genetisch gesteuerte Erkundungsantrieb ist in der Regel so stark, dass keine spezielle Förderung notwendig ist. Babys und Kleinkinder, die mit Alltagsgegenständen experimentieren dürfen, sind sowohl geistig als auch feinmotorisch besser entwickelt als Kinder, die sich nur mit Spielzeug beschäftigen. Zudem sind sie zufriedener und ausgeglichener, denn diese Erkundungen machen sie stolz. Sie erfahren dadurch ihre direkte Lebenswelt, ihren Sicherheitsbereich. Das ist ein zutiefst verankertes Entwicklungsbedürfnis. Pädagogisch wertvolles Spielzeug in einer wenig vertrauten oder ungeliebten Umgebung kann das in dieser Zeit nicht leisten (Rankl 2005, S. 141)
Ein wichtiges unbewusstes Verhalten des Babys und Kleinkindes bei seiner Umwelterkundung benötigt ganz besonders die Aufmerksamkeit der Eltern: Wenn ein- bis zweijährige Kinder etwas Neues können - und das passiert ja dauernd, schauen sie immer strahlend Mutter oder Vater an, weil sie diese als „Spiegel“ für die eigenen positiven Gefühle brauchen. Strahlen die Eltern freudig zurück, kann das Kind unbefangen weitermachen. Dies ist eine wichtige Grundlage zur Leistungsmotivation. Stehen die Eltern durch ganztägige Abwesenheit nicht als „Gefühls-Spiegel“ zur Verfügung, leidet darunter schon früh die Leistungsbereitschaft des Kindes.
Die Nachahmung spielt eine gleich wichtige Rolle wie der Erkundungsantrieb bei der Entwicklung des Kleinstkindes. Speziell über die Nachahmung entwickeln sich Vorstellungsfähigkeit und Sprache. Von Anfang an lernt das Kind durch Nachahmung. Dafür sind auch wieder die tagtäglichen Handlungen, die das Kind beobachtet, wesentlich: Wenn z.B. das Kind eines Malers/einer Malerin zum Pinsel greift wie Mama oder Papa, ist es stark motiviert und freudig dabei, jede Bewegung genauso wie Papa oder Mama auszuführen. Das muss es dann aus der Erinnerung machen, das heißt aufgrund des inneren Bildes, das es von den Eltern bei der speziellen Tätigkeit im Kopf hat. Und das ist hoch emotional besetzt. Genau das trainiert das Vorstellungsgedächtnis beim Kind und die Denkfähigkeit insgesamt, denn Lernen funktioniert besonders gut bei positiven Gefühlen.
Nach der intensiven Lernphase über die Umwelterkundung und die Nachahmung stürzt das Kind gegen Ende des zweiten Lebensjahres in die erste Krise seines Lebens: Es erkennt sich zunehmend als eigenständige Person, die von der Mutter und der übrigen Welt getrennt existiert. Es schwankt zwischen Freude über sein Können und Panik aufgrund des Wissens, getrennt zu sein. Das hat bei vielen Kindern erneut Trennungs- und Verlassenheitsängste zur Folge, die sich in verstärktem Klammerverhalten und Schlafstörungen zeigen können. Wenn das Kind die Tatsache der Eigenständigkeit begriffen hat, sagt es „ich“ zu sich selbst und nennt sich nicht mehr beim Vornamen. Dann ist es ungefähr zwei Jahre alt.
Zu dieser Zeit wird dem Kind der eigene Wille bewusst und es entwickelt nun Allmachtsgefühle. Es kommt zu höchst eigensinnigem Verhalten, das Ärger mit den Eltern nach sich zieht. Die Sache wird für das Kind nun kompliziert: Es hat Angst, die Eltern zu verlieren und allein zu sein. Es kann den eigenen Willen aber noch nicht bremsen und die Wutanfälle nicht regulieren, so dass die Eltern manchmal böse auf das Kind sind. Dass die Zwei- bis Dreijährigen große Probleme damit haben, zeigt sich am Verhalten nach einem Wutanfall: Fast alle Kinder kommen hinterher zu den Eltern und wollen wieder lieb sein. Sie brauchen die Liebe und Zuneigung der Eltern um jeden Preis, damit das Gefühl des Alleinseins sie nicht verschlingt. Gleichzeitig treibt das negative Verhalten des Kindes unbewusst die Ablösung von der Mutter voran.
Das ist jetzt also ein brennendes Thema für das Kleinkind, nachdem es die körperliche Einheit mit der Mutter nicht mehr empfindet. Dieser zwischen 18 und 28 Monaten stattfindende wichtige Prozess, den die Psychologin Louise Kaplan (1987) als „zweite Geburt“ bezeichnet, ist nur mit den Eltern optimal möglich. Stehen sie nicht als Helfer für diese „zweite Geburt“ in ausreichendem Maße zur Verfügung, kann das zur Entwicklungsverzögerung beim Kind führen.
Zur gleichen Zeit bekommt das Kind zusätzlichen Ärger durch seine Ansicht, dass alles was es sieht, ihm gehört. Das häufigste Wort ist jetzt „meins“! Es tritt fast zeitgleich mit dem Wort „ich“ auf. Das Kind will alles haben und glaubt fest daran, dass ihm alles gehört. Für sein psychisches Gleichgewicht ist dieses Verhalten durchaus nötig: Denn wenn man sich bis dahin mit allen Personen und allen Dingen als eine Einheit in einer ‚ozeanischen Suppe‘ (Freud 1930) befand, muss man jetzt alles festhalten, was erkenntnismäßig zu verschwinden droht. Das bedeutet, das Kind nimmt jetzt alles als getrennt von sich wahr und versucht damit umzugehen, indem es zuerst einmal die Dinge und die Mutter festhält.
Der Zeitraum des ständigen Einverleibens aller Dinge erstreckt sich über drei bis fünf Monate, je nach Umgang der Bezugspersonen mit dem kindlichen Verhalten. Wird das Kind häufig genötigt, Dinge abzugeben, verlängert sich die Phase. Es ist anzuraten, während dieser Zeit nicht das Teilen mit anderen Kindern zu üben und Kindergruppen zeitweise zu meiden oder die Spielgruppe zu verlassen, wenn das Kind sich zu sehr aufregt. Erst danach entwickelt sich das deutliche Interesse des Kindes an anderen Kindern. Sie geben dann ab, um ein Spiel aufrechtzuerhalten. Das funktioniert meistens erst, wenn das Kind das Wort „deins“ regelmäßig benutzt, d. h. wenn es die Bedeutung des Wortes erfasst hat. Das kann bis zum dritten Geburtstag dauern. Hat es zu viel Abgabe-Stress während dieser Zeit, „bunkert“ es unter Umständen auf Dauer.
Das auffällige Verhalten der Zweijährigen in der „Meins-Phase“ zeigt: Das Kind kann jetzt nur vom eigenen Standpunkt aus denken. Dieses Denken wird als egozentrisch, eindimensional oder ichbezogen bezeichnet und ist bei den Zwei- bis Dreijährigen entwicklungsbedingt am stärksten. Sie halten sich für den Mittelpunkt der Welt. Der Standpunkt oder die Meinung des anderen ist für das Kind nicht begreifbar. Die Befindlichkeiten des anderen kommen zwar als Gefühlsansteckung bei den meisten Kindern an. Besonders auf Traurigkeit anderer reagieren sie schon sehr früh. Aber alles, was als Anforderung von außen kommt, kann das Kind kaum einordnen. Nur wenn es ihm gutgeht, macht es das, was gesagt wird, weil es den Eltern gefallen will bzw. weil es gefühlsmäßig von ihnen abhängt.
Nach den Anforderungen von anderen in sogenannten Fremdensituationen richtet es sich allerdings, weil es sich unsicher fühlt, wenn die Eltern nicht da sind. Das ist eine Überlebensstrategie von kleinen Kindern in unsicheren Situationen. Sie verhindern mit dem angepassten Verhalten unbewusst zusätzliches Stressempfinden. Muss es sich über längere Zeiträume immer wieder anpassen, ist das Kleinkind im Alltag schnell überfordert und reagiert zu Hause mit Wutanfällen.
Die ausschließliche Ichbezogenheit im Denken der Kinder dieser Altersgruppe führt auch dazu, dass sie nur kurzzeitig mit anderen Kindern spielen können, weil sie glauben, dass alles, was sie sehen, ihnen gehört. In den ersten zwei Lebensjahren ist deshalb das Spiel des Kindes hauptsächlich auf sich selbst oder auf eine der Bindungspersonen bezogen. Ab zwei Jahre spielen die Kinder parallel nebeneinander und gucken nur, was der andere macht. Erst wenn die ausschließliche Ichbezogenheit zurückgeht (nach dem dritten Geburtstag), werden andere Kinder als Spielkameraden wichtig. Das Interesse, das schon Säuglinge an anderen Kindern zeigen, widerspricht dem nicht, denn in dieser Zeit sind die anderen Kinder interessante Objekte wie bewegliches Spielzeug, die nicht in Bezug auf sich selbst gesehen werden.
In den ersten zwei bis drei Jahren ist also nicht das soziale Lernen das Hauptentwicklungsthema, sondern das Kind muss sich erst selbst erkennen und sich in seine Umwelt einordnen. Erst dann sind genügend Kapazitäten frei für das soziale Lernen mit anderen.
Mit ca. zwei Jahren hat das Kind dann ein erstes inneres Gleichgewicht erreicht. Das ist aber noch keineswegs stabil. All die neuen Fähigkeiten müssen sich ohne Stress festigen. Das kann nur im Schutz der Familie optimal geschehen. Dann sind die Kinder mit ca. drei Jahren fit und bereit für mehrstündiges Zusammensein mit Gleichaltrigen und anderen Betreuungspersonen.
Was passiert mit diesen Entwicklungsmerkmalen bei einer frühen vielstündige Krippen- und Fremdbetreuung?
Zu dem Zeitpunkt, wo die meisten Kinder in die Krippe kommen, also mit 12 oder 14 Monaten, ist die Bewältigung der erkenntnismäßigen Trennung von der Mutter die vordringlichste Entwicklungsaufgabe für das Kind. Gleichzeitig stabilisiert sich die sichere Bindung an die Mutter. Das kann jedoch nicht gelingen, wenn sie bei diesem bis mindestens zum zweiten Geburtstag andauernden Prozess nur wenig anwesend ist. Das Kind muss den über die Gefühle gesteuerten Prozess konkret erfahren und kann ihn nicht abstrakt im Kopf vollziehen. Die Bindungsentwicklung, die im zweiten Lebensjahr die intensivste Phase hat, kann nicht vonstatten gehen, wenn die Bindunspersonen über den erlebnisreichen Tag hinweg nicht vorhanden ist. Das Krippenkind wird damit in seiner Bindungsfähigkeit und seiner Ich-Entwicklung gleich zu Beginn eingeschränkt.
Die im ersten Lebensjahr und während des Ablöseprozesses im zweiten Lebensjahr auftretenden Trennungs- und Verlassenheitsängste sind gerade in der Zeit zwischen 8 und 18 Monaten besonders stark und flammen danach immer wieder auf. Sie sind die Hauptursache für die in allen Untersuchungen festgestellte Stressbelastung der Krippenkinder, da diese Ängste jeden Morgen neu aktiviert werden. Unter Stress verschwinden die inneren Bilder der Eltern und die Angst wird dann übermächtig. (Das passiert auch den älteren Kindern noch, wenn sie unter Stress stehen). Über die Auswirkungen dieser unzeitigen Trennungserfahrungen gibt es umfangreiche Literatur (z. B.: Israel / Kerz-Rühling 2008, Götze 2011 und 2019, Scheerer 2011, Böhm 2012, Sulz u. a. 2018, Cramerotti 2020). Besonders bei sensiblen Kindern kann das dazu führen, dass sie weit über die normale Zeit hinaus Klammerverhalten zeigen. Bei diesen Kindern ist das Gefühl der Sicherheit nicht stabil, was sie in ihrer Selbstständigkeitsentwicklung schon zu Beginn behindert. Solche Kinder haben eine bestimmte Genvariante (S-Variante), die sie hochempfindlich auf Belastungen durch die Umwelt reagieren lassen (Strüber 2016, S. 64f). Die Kinder mit der anderen, der L-Gen-Variante, sind weniger von den hier beschriebenen Risiken der frühen Krippenbetreuung belastet. Je nach sonstigen Umweltbedingungen vertragen sie mehr als die Mehrheit der Kinder.
Darüber hinaus sind Kinder in den ersten zwei Jahren entwicklungsbedingt nicht in der Lage, sich mehrere Stunden auf viele Spielpartner und Aktionen einzustellen. Der tägliche stundenlange Aufenthalt in der Gleichaltrigengruppe kann zu Dauerstress durch die ständige Reizüberflutung führen. Kleinstkinder können aufgrund des noch nicht voll ausgebildeten Ichbewusstseins der Reiz-Flut nichts entgegensetzen, sie können sich nicht davor schützen. Wenn Kinder im frühen Alter mit einer zu großen Reizflut in Berührung kommen und sie die Umwelt als überfordernd, wenig fassbar und verlässlich erleben, führt das unter bestimmten Umständen dazu, dass psychische Strukturen gar nicht erst aufgebaut werden. Die Wahrnehmungskraft wird geschwächt und es besteht die Gefahr, später Konzentrationsprobleme zu entwickeln (Ahrbeck 2008, 702-705).
Darüber hinaus verursachen die oben geschilderten Entwicklungsmerkmale der Ichbezogenheit und der ‚Meins-Phase‘ der Eineinhalb- bis Zweijährigen den Kindern zusätzlichen Stress, da sie dies in der Krippensituation kaum ausleben. Denn aufgrund des latenten Unsicherheitsgefühls besonders beim ruhigeren Krippenkind, hält es sich hier so gut es kann zurück. Es versucht damit, sein inneres Gleichgewicht einigermaßen stabil zu halten, was für diese Kinder sehr anstrengend ist. Zudem werden seine Gefühle durcheinander gewirbelt, da es seinem Bedürfnis nach Festhalten von Gegenständen nicht nachkommen kann. Das führt zum inneren Rückzug, der die Ichbezogenheit verfestigt und soziales Lernen verhindert.
In der Krippe zeigen die unter Zweijährigen eher ein vermeintlich soziales Verhalten, das zu diesem Zeitpunkt jedoch eine „Überlebensstrategie“ ist: Sie bestehen in der „Meins-Phase“ nicht auf den Dingen, sondern trösten bei Traurigkeit eines anderen Kindes dieses mit seinem Lieblingsspielzeug. Vor dem Icherkennen reagieren die meisten Kinder impulsmäßig auf Traurigkeit und Weinen eines anderen, weil die Gefühlsansteckung das Kind stark beeinträchtigt. Es empfindet das gleiche Gefühl wie das weinende Kind und versucht dann, das Gefühl an der Quelle abzustellen (Bischof-Köhler 1989, S. 158). Es tröstet den anderen, damit dieser aufhört zu weinen. Insofern ist das kein bewusstes soziales Verhalten, das einen Lerneffekt für später hat.
Diese Ansammlung von Stressbelastungen ist der Grund für die übermäßig häufigen Erkrankungen von Krippenkindern. Bei einigen Kindern führt eine solche Stressansammlung zu stereotypen Verhaltensweisen. Sie zwingen Eltern mit extremem Geschrei zu bestimmten absurden Handlungen oder vollziehen selbst mit wütendem Gesicht immer die gleichen Aktionen.
Bei früher Ganztagsbetreuung, besonders bereits im ersten Lebensjahr, besteht zusätzlich die Gefahr der Bindungsstörung, die das weitere Leben des Kindes erheblich beeinträchtigt. Die Bindungsentwicklung ist, wie oben ausgeführt, neben dem liebevollen Umgang mit dem Kind auf die weitgehende Anwesenheit besonders der Mutter in den ersten zwei bis drei Jahren angewiesen, - und zwar wegen des fehlenden Vorstellungsgedächtnisses im ersten Jahr, dem wenig stabilen Vorstellungsgedächtnis im zweiten Jahr und der Stabilisierung der bisher erworbenen Fähigkeiten im dritten Jahr. Wie sich die Bindung zwischen Mutter und Kind in den ersten drei bis vier Jahren im einzelnen vollzieht, beschreiben die Humanethologin Ursula Henzinger (2017) und die Erziehungsberaterin Natalie Rehm (2021) an vielen kleinen gemeinsamen Alltagssituationen.
Auch wenn in der öffentlichen Diskussion diese Belastungen von Krippenkindern ignoriert oder durch manche Experten verneint werden, zeigen die Ergebnisse aus der vielzitierten amerikanischen Langzeit-Studie (National Institute of Child Health and Human Development) zur frühen Krippen- und Fremdbetreuung ein anderes Bild. Bei den früh und vielstündig (mehr als 10 Stunden/Woche) krippenbetreuten Kindern gibt es im Kindergarten- und Schulalter Verhaltensauffälligkeiten, die auf Bindungsstörungen hinweisen: Sie sind bockiger, frecher, ungehorsamer und aggressiver als vergleichbare Familienkinder (Für eine deutsche Studie dazu s. Schulz / Wulfes in Sulz u. a. 2018, S. 121-138).
Dieses negative Verhalten wird von Bindungsforschern als unsicher-ambivalentes Bindungsmuster bezeichnet. Kinder mit diesem Bindungsmuster sind durch das Elternverhalten ständig hin- und hergerissen, weil sie nicht sicher sind, ob sie geliebt werden. Das Bindungsmuster kommt normalerweise zustande, wenn Eltern in ihrem Erziehungsverhalten stark widersprüchlich sind, d. h. sich sowohl übermäßig liebevoll und nachgiebig und als auch heftig abweisend und strafend verhalten. Es kommt aber auch zustande durch ständige Enttäuschungen beim Kind, wenn die Eltern sich nicht kümmern, weil sie nicht da sind, wenn das Kind sie braucht. Bei früher Krippen- und Fremdbetreuung kommt es zwangsläufig zu solchen Situationen, wenn das Kind seine Eltern vermisst. Da das kleine Kind nicht verstehen kann, warum die Eltern nicht da sind, sammelt es negative Gefühle an, die es zu Hause an den Eltern und später an den Geschwistern und Spielkameraden abreagiert. Können die Eltern dauerhaft nicht angemessen damit umgehen, entsteht eine unsicher-ambivalente Bindung.
Aus einer deutschen Untersuchung im Jahr 2000 zu den Auswirkungen früher Krippenbetreuung geht genau das hervor: Die Kinder zeigten negatives Verhalten gegenüber den Müttern beim Abholen aus der Krippe, und diese gingen nicht angemessen damit um. Das haben die Forscherinnen (Ahnert u. a. 2000) festgestellt, ohne dies zu kommentieren.
Da die Kinder, je nach Temperament, beim oben beschriebenen Ablöseprozess unterschiedlich ausgeprägte Bedürfnisse nach der Mutter/den Eltern haben, sind sie auch unterschiedlich stark durch Fremdbetreuung belastet.
Die hochsensiblen, eher ängstlichen Kinder, die starkes Klammerverhalten zeigen, vertragen die Fremdbetreuung vor dem 3. Geburtstag gar nicht. Leider sind es auch diejenigen, die am wenigsten protestieren. Sie suchen sich in der Krippe eine andere Bezugsperson, an die sie sich anklammern. Wenn das nicht gelingt, weil z. B. keine der Mutter ähnliche Erzieherin da ist oder die Erzieherinnen zu wenig Zeit haben, verhalten sie sich still und ziehen sich zurück, um nicht noch mehr Stress zu haben. Diese Kinder sind unbewusst mit der Aufrechterhaltung ihres inneren Gleichgewichts beschäftigt. Wenn Kinder keine Sicherheit haben, suchen sie nur die und brauchen ihre ganze Energie dafür. Bei solch ruhigen, distanzierten Kindern wurde bei Untersuchungen zur Krippenbetreuung der höchste Stresspegel festgestellt (z. B. Wiener Krippenstudie von Ahnert u. a.). Das ist nicht verwunderlich, da Kleinkinder noch kein Stressbewältigungssystem haben, sondern nur reflexartig auf Stress reagieren (Babys wenden den Blick ab, Kleinkinder werden sehr unruhig oder ziehen sich zurück). Einige dieser Kinder orientieren sich stark an einem anderen Kind, das ebenfalls sich allein und verlassen fühlt. Damit retten sich solche Kinder über den Tag und über die Zeit, bleiben meist auch im Kindergarten zusammen und können dort ohne einander nicht gut existieren.
Von den Erwachsenen wird dieses Verhalten oft als Gewöhnung gedeutet und positiv gesehen, es ist aber das kritischste Verhalten. Es sind reine Überlebensstrategien des Kindes, die Spiel- und Erkundungsverhalten verhindern oder einschränken. Eine gesunde geistige und psychische Entwicklung ist so nicht möglich. Diese Kinder funktionieren und lernen, ihre Gefühle zu unterdrücken, um sich anzupassen. Bei den besonders sensiblen und ängstlichen Kleinkindern heißt das, sie lernen bei Kummer nicht zu weinen, bei Einsamkeit still zu sein, sich schnell beruhigen zu lassen (Scheerer 2011). In der Wiener Krippenstudie waren 20 % der Kinder davon betroffen.
Die außenorientierten, eher aggressionsbereiten Kinder protestieren entweder heftig gegen das Allein-gelassen-werden oder sie stürzen sich ins Getümmel, weil sie interessante Sachen sehen. Diese Kinder profitieren u. U. von einer halbtägigen guten Krippenbetreuung, wenn sie sehr gegenstandsbezogen, Personen für sie nicht so wichtig oder fremde Personen besonders interessant für sie sind. Eine bestimmte Genvariante, die sie unempfindlicher gegenüber Belastungen macht (Strüber 2016, S. 54f), schützt sie. Ob die Belastung für das Kind wirklich gering und verträglich ist, zeigt sich aber erst zu Hause oder wenn es abgeholt wird: Ist das Kind fröhlich, freut sich über das Erscheinen der Eltern und ist auch zu Hause weitgehend friedlich und das an den meisten Tagen, dann geht es ihm mit der Krippenbetreuung gut. Kinder mit einem solchen außenorientierten und ausgeglichenen Temperament machen lt. Strüber (2016) ungefähr 12 % eines Jahrgangs aus. Diese Kinder sind jedoch belastet durch den eingeschränkten Erkundungsraum in der Krippe und die geringeren Bewegungsmöglichkeiten bei Ausflügen im Krippenwagen.
In Berliner Tagesstätten wurden im Jahr 2000 mehrere Untersuchungen zur Belastung von Einjährigen durch die Krippenbetreuung gemacht: Im Durchschnitt hat es vier Monate gedauert, bis der Stresspegel bei den meisten Kindern wieder auf dem Niveau von vorher war! Vier Monate (die Kinder wurden ganztags betreut) von 15 Monaten Lebenszeit heftiger Stress!
Dass der Stress durch die Aktivierung des biologischen Bindungssystems beim Kind entsteht, weil die Bindungsperson nicht erreichbar ist, und dass Vertröstungen bis zum Mittag oder Abend nicht greifen, wurde von den Forscherinnen nicht erwähnt. Dabei führt die häufige und anhaltende Aktivierung des Stress-Systems beim Kleinkind zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit und durch Veränderungen im Neurotransmittersystem zu erhöhter Stressanfälligkeit auch im späteren Alter (Roth 2015a, S. 127f)! Mehrere neue Untersuchungen hier und in Schweden zeigen die erhöhte Neigung zu Ekzemen bei Krippenkindern und die dreifach höhere Anzahl von später auftretenden ADHS-Symptomen. Ebenso gibt es inzwischen Nachweise über die Verringerung der Knochenstabilität bei Kindern durch das Erleben von anhaltendem Stress (Seiler 2014). Nach Aussagen des Neurobiologen Gerhardt Roth benötigt das kindliche Stresssystem mindestens 3 Jahre, bis es einigermaßen stabil ist. Bei anhaltendem moderaten Stress in der frühen Kindheit entstehen später Ängstlichkeit, Depressionen und Angsterkrankungen (Roth 2015b, S. 63).
Mit der im Jahr 2012 abgeschlossenen Wiener Krippenstudie (Ahnert u. a.) wird die hohe Stressbelastung bei Krippenkindern, insbesondere bei Ganztagsbetreuung, erneut bestätigt. Aber auch hier wird - wie bei allen öffentlichen Äußerungen zu dem Thema - diese Belastung auf die schlechte Ausbildung der Erzieherinnen zurückgeführt (sie würden den Stress der Kinder nicht beachten). Es wurde nicht in Erwägung gezogen, dass die Krippenbetreuung für Kinder unter zwei Jahre eine zu große Belastung sein könnte. Statt dessen wird den Erzieherinnen die Schuld zugeschoben (Ahne 2013).
Dass viele der kleinen Kinder Probleme in der fremden Betreuungssituation haben, ist an dem typischen Verhalten der Mehrheit der unter Zweijährigen in der Kinderkrippe zu erkennen: Sie spielen über lange Zeit gar nicht, dann meistens allein oder sie scharen sich um eine Betreuerin und wollen getragen werden. Experten nennen dies Inselverhalten. Die Kinder verharren bei der Betreuungsperson, lassen sich gut anleiten und gehorchen (sie machen alles, was gesagt wird, essen auch manierlich, was zu Hause nicht funktioniert). Auch das ist eine unbewusste Maßnahme, das innere Gleichgewicht einigermaßen stabil zu halten. Es wird von Erwachsenen positiv gesehen und als Anpassung gedeutet. Eine dauerhafte Anpassung strengt das Kleinkind aber übermäßig an, was zur Überforderung führt, die sich in verstärkter Unruhe zeigt oder auch zu übermäßigen Wutanfällen führen kann.
Das Verhalten weist auf ein grundsätzliches Problem der frühen Fremdbetreuung hin. Es dürfte klar sein: Wenn sich die unter Zweijährigen noch nicht als eigenständige Person wahrnehmen, also noch keinen festen Standpunkt haben, nichts einordnen und einschätzen können, noch kein Bewusstsein vom eigenen Willen haben, keine Kontrolle über Situationen und ihre Gefühle, dann müssen sie sich bei Unsicherheitsempfinden am nächst greifbaren Erwachsenen orientieren, um nicht als Irrlichter durch den Raum zu schwirren.
Beim Abgeben morgens in der Krippe wird der beschriebene Zustand der einjährigen Kinder deutlich: Sie lassen fast alles mit sich machen und akzeptieren schnell die Betreuungsperson, wenn sie von dieser gleich getröstet werden. Der eigene Wille ist aufgrund des fehlenden Ichbewusstseins noch nicht so stark, um heftig zu protestieren. Dies machen allerdings die Zweijährigen, denn die haben ein Ichbewusstsein und einen eigenen Willen und wehren sich je nach Temperament heftig gegen Dinge, die ihnen nicht guttun.
Bei der Abholung aus der Betreuung oder später zu Hause zeigen die Kinder, wenn die Zeit in der Krippe für sie eine Belastung war: Sie sind dann aggressiv und wütend auf die Eltern oder weinerlich und schlecht gelaunt, wenn sie eine sichere Bindung an die Eltern haben. Ist dieses negative Verhalten ein Dauerzustand, verändert sich die sichere Bindung an die Eltern zur unsicher-ambivalenten. Das spätere negative Verhalten ist damit programmiert. Eltern können in der Regel dieses Verhalten dann nicht einordnen, was die Probleme verschärft.
Bei früher Ganztagsbetreuung kann es zur Primärbindung an eine Erzieherin kommen, was sich daran zeigt, dass das Kind beim Abholen häufig nicht zur Mutter will. Wenn das Kind dann von der Krippe in den Kindergarten wechselt, erlebt es einen traumatischen Beziehungsabbruch.
Es gibt noch zwei weitere Entwicklungsmerkmale, die für eine frühe vielstündige Fremd- und Krippenbetreuung problematisch sind: Kleine Kinder verfügen noch nicht über den sogenannten Bewusstseinsstrom. Das bedeutet, sie können die Erlebnisse eines Tages nicht als etwas Zusammenhängendes wahrnehmen, sondern nur als einzelne unzusammenhängende Ereignisse. Hirnforscher nennen das „Aktualbewusstsein“ (Roth 2001); denn Kleinkinder leben ja bekanntermaßen nur in der augenblicklichen Situation. Diese einzeln wahrgenommenen Erlebnisse können dabei als übermäßig stark empfunden werden und andere überlagern. Wenn also das Kind eine negative Erfahrung macht - ihm wird z. B. ein Spielzeug weggenommen - kann dies das prägende Erlebnis eines ganzen Tages oder einer ganzen Woche sein, ohne dass die vorsprachlichen Krippenkinder in der Lage sind, darüber zu berichten. Negative Erlebnisse in der Krippe oder in anderen Betreuungssituationen können die positiven Erfahrungen überlagern; denn negative Gefühle werden stärker gespeichert als positive. Das bedeutet auch, negative Gefühle kommen später unvermittelt durch und sind dann von den Erwachsenen nicht mehr einzuordnen.
Dieses Aktualbewusstsein führt andererseits auch dazu, dass sich Kinder unter Zwei von ihrem Kummer schnell ablenken lassen, wenn ein neuer Reiz auftaucht. Das ist für die Fremdbetreuung von Vorteil, da so nach der Eingewöhnungszeit auch zufriedene Spielsituationen zustande kommen. Dadurch entsteht möglicherweise im weiteren Verlauf der Betreuung der Eindruck, dass mit dem Kind alles in Ordnung sei. Das zeigt sich jedoch erst viel später, wenn das Kind sein Ichbewusstsein entwickelt hat und der eigene Wille sein Verhalten steuert. Dann haben sich u.U. eine Menge negative Gefühle angesammelt, die über Verhaltensauffälligkeiten nach außen drängen. Häufig ist das erst dann der Fall, wenn das Kind mit ca. 4 Jahren durch eine besser ausdifferenzierte Wahrnehmungsfähigkeit die zweite Phase des Ichbewusstseins erlebt. Dann zeigen besonders die sensibleren Krippenkinder hohe Unruhe, andere bekommen aus dem Stand heftige Wutanfälle oder werden hysterisch - ohne dass für Außenstehende die Gründe dafür zu erkennen sind.
Ebenso ist das fehlende Zeitverständnis bei kleinen Kindern ein Problem. Zeit hat für sie noch keine Bedeutung. Bis vier Jahre haben die Kinder nur ein implizites Zeitwissen, das sogenannte archaische Zeitwissen, sie leben im Hier und Jetzt. Erst zwischen 4 und 6 Jahren bildet sich das ‚kulturelle Zeitverständnis‘ aus. Bis dahin ist jeder Zeitdruck ein besonderes Problem für das Kind. Es reagiert darauf mit Verweigerung und Trödeln. Beim Krippenkind beginnt das Problem schon mit dem Herausholen aus dem Schlaf, bevor es ausgeschlafen hat. Gerade bei Kleinstkindern ist der ausreichende Schlaf wichtig für die Gehirnentwicklung, weil die vielfältigen Eindrücke des Tages im Schlaf verarbeitet werden müssen. Der morgendliche Schlaf ist nach Aussagen von Hirnforschern dafür sogar besonders effektiv.
Auch die Hektik, die durch feste Arbeitszeiten bei berufstätigen Eltern morgens entsteht, ist ein Problem. Sie überträgt sich ungefiltert auf das Kind. Dies ist irritiert und kann kaum das Gefühl entwickeln, selbst etwas zu bewirken, weil es funktionieren muss. Darunter leidet schon sehr früh das positive Selbstwirksamkeitsgefühl, das u. a. die Basis für die spätere Leistungsbereitschaft ist. Darüber hinaus kann das Kind kein sicheres Zeitgefühl entwickeln, weil die Zeiten der Erwachsenen ihm dauerhaft übergestülpt werden. Das Trödeln der Kinder wird dann zum Dauerbrenner.
In allen europäischen Ländern wird bei Befragungen von den Kindern immer wieder gesagt, dass die ihre Eltern zu wenig Zeit für sie hätten. Die Kinder zwischen 6 und 10 Jahren wünschten sich mehr Zeit im Alltag, elterliche Anwesenheit im Hintergrund, um bei Bedarf Kontakt aufnehmen zu können. Die konkreten Aussagen zeigten die empfundene Qual und Resignation der Kinder (Zeiher 2007). Deren Eltern dagegen waren häufig der Meinung, dass sie viel Zeit mit den Kindern verbringen. Diese unterschiedliche Wahrnehmung resultiert aus dem fehlenden Zeitverständnis und dem fehlenden Bewusstseinsstrom im Kleinkindalter und aus der Tatsache, dass Situationen, in denen sich das Kind alleingelassen fühlte, auf Dauer eingebrannt sind.
Die von den PolitikerInnen propagierte frühe Bildung kann aus all diesen Gründen nur eingeschränkt oder gar nicht stattfinden. Zu Hause in einer sicheren Umgebung würde dies ohne spezielle Förderung von allein laufen.
Es sind also folgende Entwicklungsmerkmale, die gegen eine frühe Fremdbetreuung sprechen:
- Die Bindungsentwicklung und die damit zusammenhängenden Trennungs- und Verlassenheitsängste, die den schlimmsten Stress beim Kleinkind verursachen.
- Der notwendige Ablöseprozess von der Mutter zwischen dem ersten und zweiten Geburtstag kann nicht störungsfrei verlaufen, weil dieser sich nur von einer weitgehend anwesenden Mutter vollziehen lässt.
- Das Erkundungs- und Nachahmungslernen, das für eine positive Entwicklung auf viel Freiraum und Geborgenheit in der Familie angewiesen ist.
- Das fehlende Ich-Bewusstsein, das ganz besonders den haltenden Rahmen der primären Bindungsperson benötigt.
- Die entwicklungsbedingte Einstellung, dass alles Wahrgenommene „meins“ ist und in der Gruppenbetreuung dem Kind viel Stress bereitet
- Die Spielentwicklung, die bis zum Alter von zwei Jahren hauptsächlich allein und auf die direkten Bindungspersonen bezogen durchlaufen wird. Erst zwischen Zwei und Drei, wenn das Parallelspiel beginnt und die „Alles-ist-meins-Phase“ zu Ende geht, profitieren Kinder von Gleichaltrigen. Geschwisterkinder sind jedoch wichtige Spielpartner auch in der frühen Zeit.
- Das fehlende Zeitverständnis.
- Das Aktualbewusstsein, das eine negative Färbung der Erfahrungen verursachen kann.
- Die Stressbelastungen, die vom Kind nicht reguliert werden können.
- Die Reizüberflutung durch die ständigen Kontakte mit vielen Gleichaltrigen, die genau die gleichen Probleme haben wie das Kind selbst. Diese bewirken ständige Reize, gegen die das Kind sich nicht wehren kann, was zu einer hohen Stressbelastung führt. Hinzu kommen die zahlreichen Förderprogramme, die in Hochglanzbroschüren den Kitas vorliegenden und die von Fachzeitschriften immer wieder angeregten vielfältigen sogenannten ‚Projekte‘, die die natürlichen Lernantriebe beim Kind unterbrechen und dann des Stresspegel erhöhen.
Auch wenn das eine oder andere bei hoher Qualität in der Krippe mehr oder weniger gut aufgefangen werden kann, zeigen Studien, dass eine gute Qualität bei Krippen eher selten vorhanden ist. Hinzu kommt in den letzten Jahren die prekäre Personalsituation, die sich auf Dauer nicht beheben lassen wird, so dass sich auch für Erzieherinnen die Situation nicht verbessern kann. Somit wird es kaum eine Verbesserung der Betreuungsqualität geben. Wie sich die Krippenpraxis für die Kinder und Erzieherinnen darstellt, ist in der Veröffentlichung von Sulz u. a. (2020) nachzulesen. Es wird daran immer wieder deutlich, dass auch bei hohem Einsatz der Erzieherinnen die Probleme der Kinder nicht behoben werden können. Denn die liegen in der zu frühen Trennung von den Eltern.
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Hinweis: Lesen Sie hier einen Beitrag der Autorin zum Thema "Frühe Fürsorgearbeit von Vätern"
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