
Was ist so schlimm am Betreuungsgeld?
Alle in der Früh- bzw. Kindheitspädagogik sind sich heute einig – und die meisten politischen Parteien mit ihnen: Das Betreuungsgeld konterkariert die Bemühungen um eine effektive frühkindliche Bildung. Es geht dabei um die Zeit vom 15. Lebensmonat (ein einviertel Jahre) bis drei Jahre der Kinder, wenn das Elterngeld ausgelaufen ist. In dieser Zeit sollen, so ist es politisch gewünscht, die Kinder schon eine Krippe besuchen.
Ein Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.4. von Christian Geyer lenkt den Blick auf ein paar Argumente, die in dieser Diskussion bislang nicht vorkommen. Das wichtigste Argument, nämlich das ökonomische, sei hier als erstes zitiert. Das Betreuungsgeld würde pro Jahr eine Milliarde Euro oder nach Schäubles Schätzungen zwei Milliarden kosten. Das Ehegattensplitting indessen, das keine der Parteien antastet, hält Frauen mit und ohne Kinder vom Arbeitsmarkt fern (vgl. Geyer 2012), und zwar vor allem diejenigen, deren Männer gut verdienen. Für diejenigen, denen das Ehegattensplitting unbekannt ist: Die Einkommen beider Ehepartner werden zusammengezählt und die zu zahlenden Steuern werden auf die dann bei ihnen entstehenden Einkommen berechnet. Das heißt konkret: Die Steuerschuld eines Mannes, der 5000 € monatlich verdient, seine Frau hingegen nichts, wird auf 2.500 € heruntergedimmt – und zwar auch dann, wenn die Frau kein Kind betreut. Diese sozialpolitische Maßnahme kostet den Staat - halten Sie den Atem an! – 20 Milliarden Euro. Und sie ist ein Skandal – für alle Familien mit Kindern, die wenig verdienen und ganz besonders für die Alleinerziehenden.
Mag sein, dass die CSU, die Hauptstrategin für das Betreuungsgeld, bei Ehegattensplitting und Betreuungsgeld die nicht erwerbstätige Ehefrau im Auge hat. Selbst wenn dies nicht meine politische Position ist: Auch diese Alternative sollte es in den ersten Lebensjahren geben dürfen – dies ist grundgesetzlich im Elternrecht festgelegt. Dazu Geyer: „In der maßlosen Aufspreizung der Argumente gegen das Betreuungsgeld wird nicht nur das Betreuungsgeld als gemeinwohlschädlich hingestellt, sondern auch die Lebensentscheidung, die davon profitieren soll: nämlich den Nachwuchs in den ersten drei Lebensjahren privat statt im Kindergarten zu betreuen. Dieses gute Recht jeder Mutter, jedes Vaters gerät plötzlich selbst unter Verdacht, das Gemeinwohl zu schädigen, die Anstrengungen für Arbeit, Bildung und Integration zu unterlaufen. Geht’s noch?“
Wenn aber, wie in www.zeit.de
zu lesen, geplant ist, EmpfängerInnen von ALG 2 (Hartz IV) vom Bezug des
Betreuungsgeldes auszuschließen, dann wäre dies innerhalb dieser Maßnahme ein
Skandal besonderer Art – worüber wir nicht weiter spekulieren müssen, weil der
Plan wohl nicht realisiert wird.
Auch ich habe als Hochschullehrerin die Eltern kritisiert, deren Kinder einen Krippenbesuch am nötigsten hätten, weil die Familien neben materieller Armut auch über wenig seelische Kräfte verfügen. Und ich bin auch heute der Meinung, dass gerade für die Kinder dieser Eltern eine (gute!!!) Krippe eine bedeutsame Unterstützung ihrer Entwicklung ist.
Aber die Frühpädagogik, die Eltern, die eine andere Entscheidung treffen, diffamiert, verrät ihre eigenen Prinzipien: kultursensible, inkludierende und vorurteilsbewusste Pädagogik, also Diversity, und die Anerkennung der privaten Leistungen in der Kindererziehung.
Kultursensible Pädagogik: Heidi Keller hat aufgrund eigener Studien dafür plädiert, mit freundlichen Augen (d.h. mit weniger Vorurteilen und Selbstgewissheiten) auf Kulturen zu schauen, die in der Kleinstkinderziehung wesentlich stärker als unsere Mehrheitskultur die Gemeinschaft mit der Familie betonen. Die Anerkennung dieser Andersartigkeit sollte im Vordergrund stehen, wenn wir einen Zugang zu Eltern anderer Kulturen suchen.
Anerkennung familialer Leistungen in der Kindererziehung: Auch wenn ErzieherInnen für die Erziehung und Bildung von Kindern ihre Professionalität mitbringen, so dürfen dadurch nicht die Leistungen von engagierten Müttern und Vätern entwertet werden. Der Begriff „Herdprämie“ diffamiert die (zumeist weibliche) Arbeit in der Familie und negiert die grundgesetzlich festgelegte, zumindest theoretische (1) Möglichkeit der Entscheidung von Eltern zwischen Familien- und Erwerbsarbeit
Vorurteilsbewusste Pädagogik: Annika Sulzer und Petra Wagner haben sehr überzeugend in ihrer WIFF-Expertise dargelegt, dass vorurteilsbewusste Erziehung nicht nur bedeutet, sich über die Ursachen der sozialen und individuellen Ungleichheit klar zu sein, sondern auch die Gewissheiten zu hinterfragen, die sich aus der eigenen sozialen Stellung und Bildung ergeben.
Wir machen uns zu wenig klar, mit welcher Arroganz wir Menschen gegenübertreten, die nicht unsere Privilegien hatten und deshalb arm oder wenig gebildet sind. Wenn diese Eltern ihre Kinder aufgrund kleiner finanzieller Anreize, die für sie große sind, zu Hause erziehen wollen, dann muss man sich andere Formen des Miteinander überlegen als eine überhebliche Ablehnung des Betreuungsgeldes. Zu denken wäre an eine Abschaffung des Ehegattensplittings und eine großzügige Ausstattung von Familienzentren, mit denen dann auch arme Familien mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund angezogen werden.
Die erbitterte Kontroverse um das Betreuungsgeld lenkt auch von einem anderen Tatbestand ab. Die Anzahl der Krippenplätze wird voraussichtlich in Gesamtdeutschland kaum 30 Prozent der Kinder erreichen. Andere sollen zu Tagesmüttern gehen. Und gewährleisten diese immer eine bessere Bildung als das Elternhaus?
Das heißt: Auch wenn die Krippenerziehung für Kinder ab 14 Monaten, besonders in schwierigen Familienverhältnissen, bessere Aufwachsmöglichkeiten bietet – auch dann muss die Debatte nicht so geführt werden, wie dies zur Zeit der Fall ist.
Die harten Fakten sprechen allerdings wirklich gegen das Betreuungsgeld. Denn ein Blick nach Norwegen und Finnland zeigt, dass dort vor allem Mütter mit niedrigem Bildungsstand und solche mit Migrationshintergrund die entsprechenden Leistungen in Anspruch nehmen und ihre Kinder nicht in die Kita geben (Schuler-Harms 2010: 15 f.). Gerade bei armen Familien mit mehreren Kindern summieren sich geringe Zahlungseingänge. Und nicht nur in Skandinavien. In Thüringen wird schon seit 2006 ein Betreuungsgeld für Eltern gezahlt, die ihre Kleinstkinder nicht in eine öffentliche Einrichtung geben. Laut Forschungsergebnissen stieg der Anteil der Kinder, die zu Hause betreut wurden, danach um 20 %. Die Bonner Forscher ermittelten, dass der Anteil der ausschließlich zu Hause betreuten Kinder nach der Einführung des Betreuungsgeldes in Thüringen um 20 Prozent anstieg. „Eine besonders große Anziehungskraft habe das Geld auf Geringqualifizierte gehabt - sowie auf Familien, von denen ein Elternteil aus dem nichteuropäischen Ausland stamme“ (Haimerl 2012). Auch wenn wir Entscheidungen dieser Familien respektieren, so müssen wir sie nicht mit zusätzlichen Anreizen in eine Richtung drängen, die für die Kinder Nachteile bieten kann.
Anmerkung
(1) Der Begriff Wahlfreiheit war und ist natürlich für KleinstverdienerInnen und Alleinerziehende Fiktion
Quellen:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Das Elterngeld. http://www.bmfsfj.de/familie,did=76746.html
Geyer, Christian (2012): Der Fischer und seine Frau. Beim Betreuungsgeld geht es ums Ganze. In: FAZ vom 18. April, S. 27
Haimerl, Kathrin (2012): Streit um das Betreuungsgeld – Forscher warnen vor negativen Effekten für Kinder. Süddeutsche Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/politik/streit-um-das-betreuungsgeld-forscher-warnen-vor-negativen-effekten-fuer-kinder-1.1324284
Keller, Heidi (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Springer-Verlag
Schuler-Harms, Margarete (2010): „Verfassungsrechtlich prekär“. Expertise zur Einführung eines Betreuungsgeldes für die Friedrich-Ebert-Stiftung.
Sulzer, Annika/Wagner, Petra (2011): Inklusion in Kindertageseinrichtungen – Qualifikationsanforderungen an die Fachkräfte. WiFF-Expertise Nr. 15., München
Hartz-IV-Empfänger sollen kein Betreuungsgeld erhalten. http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-03/familienministerium-betreuungsgeld. Abruf 22.4.12