zwei U3 Kinder

Was kleine Kinder wirklich brauchen...

Gerald Hüther

17.06.2010 Kommentare (1)

Wir haben diesen Artikel in der Ausgabe 5/10 von Betrifft Kinder entdeckt. Die Redaktion hat uns gestattet, ihn zu übernehmen, weist aber darauf hin, dass er auf der Website des Brandenburgischen Bildungsministeriums steht:http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb1.c.206958.de

Neurobiologische Rückenstärkung für Salman Ansaris kritischen Beitrag über fragwürdige Konzepte der Frühförderung von Prof. Gerald Hüther, dem Leiter der Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung an den Universitäten Göttingen, Heidelberg und Mannheim.

Das kindliche Gehirn strukturiert sich anhand der Erfahrungen, die ein Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt macht. Die ersten und wichtigsten Erfahrungen, die jedes Kind bereits vor der Geburt macht, die die ersten Netzwerke in seinem Gehirn stabilisieren und damit Grundlage aller weiteren Reifungsprozesse werden, sind nicht die von uns Erwachsenen für so wichtig erachteten Erfahrungen über die Beschaffenheit der Welt. Vielmehr sind das die vielfältigen Erfahrungen, die Kinder normalerweise beim Umgang mit und bei der Steuerung des eigenen Körpers machen: Körpererfahrungen also, die jedes Kind braucht, um seine Bewegungen zu steuern, um krabbeln, laufen, sprechen, sich selbst spüren, sich selbst als aktiver Gestalter und Beweger und nicht als passiver Konsument von irgendwelchen Frühförderungsangeboten erleben zu können.

Die nächsten, für die Strukturierung des kindlichen Gehirns entscheidenden Erfahrungen macht jedes Kind in seiner Beziehung zu anderen Menschen, seinen Bezugspersonen. Nur wenn diese Erfahrungen mit den bereits vorgeburtlich gemachten Erfahrungen von engster Verbundenheit einerseits (Bindungssystem) und von eigenem Wachstum, fortschreitendem Kompetenzerwerb (Neugiersystem) andererseits als kongruent erlebbar werden, kann ein Kind die in ihm angelegten Potenziale entfalten. Nur dann bleibt seine angeborene Entdeckerfreude und Gestaltungslust erhalten und äußert sich als Offenheit, Neugier, Kreativität im Umgang mit sich selbst und der Gestaltung seiner jeweiligen Lebenswelt, auch seiner Beziehungen zu anderen Menschen.

Jeder Versuch, diese Entdeckerfreude und Gestaltungslust in eine bestimmte, in den Augen der Erwachsenen bedeutsame Richtung zu lenken, beraubt Kinder zwangsläufig der Möglichkeit, für sie relevante Bedeutsamkeiten selbst zu entdecken. Der Versuch, ihnen etwas in den Augen ihrer Bezugspersonen Wichtiges zu zeigen, zu erklären oder „beizubringen“, das gerade nicht in ihrem Fokus ist, beraubt sie der Möglichkeit, es aus eigenem Interesse selbst zu entdecken.

Kinder, die durch solche „Förderungsmaßnahmen“ daran gehindert werden, aus eigenem Antrieb für sie Bedeutsames zu entdecken und mit ihren eigenen Möglichkeiten zu erkunden, verlieren aufgrund dieser Erfahrungen ihr Interesse am eigenen aktiven Entdecken, am Erkunden und Gestalten ihrer Lebenswelt. Sie werden abhängig von den „Anregungen“, die von außen an sie herangetragen werden. Sie machen die Erfahrung, dass es auf das, was sie im Inneren bewegt, auf ihre eigenen Intentionen und Ideen, auf ihre eigene Neugier und Gestaltungslust nicht ankommt. Sie können sich nicht mehr über sich selbst begeistern, sondern bestenfalls noch über das, was von außen an sie herangetragen wird.

Solche Kinder machen die Erfahrung und verankern sie in ihrem Gehirn, dass sie nicht so gemocht werden und sein können, wie sie sind, sondern dass ihnen von ihren Bezugspersonen etwas gezeigt, erklärt und vorgeführt wird, was sie nur noch entweder annehmen oder ablehnen können. Je nachdem, wofür sie sich entscheiden, machen sie eine weitere schmerzhafte Erfahrung, die ebenfalls in ihrem Gehirn verankert wird: dass sie nun selbst, entweder angenommen oder abgelehnt werden.

Jede gezielte Frühförderungsmaßnahme, die nicht Eröffnung von Erfahrungsräumen, sondern Vermittlung vorverdauter Informationen ist, bringt ein Kind also in ein Dilemma: entweder es unterdrückt sein angeborenes Bedürfnis nach eigenem Wachstum und selbstgesteuerter Potenzialentfaltung oder es unterdrückt sein Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit. Gleichgültig, wofür es sich entscheidet, es macht in beiden Fällen die gleichermaßen schmerzhafte Erfahrung, dass es beides, sein Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit und sein Bedürfnis nach Wachstum, Potenzialentfaltung und Autonomie nicht gleichzeitig stillen kann.

In beiden Fällen handelt es sich um eine äußerst schmerzhafte Erfahrung. Weil das betreffende Kind nicht das findet, was es braucht, wird es deshalb fortan versuchen, sich das zu beschaffen, was es bekommen kann – Ersatzbefriedigungen.

Weil aber noch so verlockend dargebotene oder bitter erkämpfte Ersatzbefriedigungen auf Dauer ungeeignet sind, die angeborene Sehnsucht des Kindes nach Verbundenheit und Nähe einerseits und nach Selbstentfaltung, Autonomie und Freiheit andererseits zu stillen, werden solche Kinder nicht nur von der ständigen Zufuhr von Ersatzbefriedigungen abhängig. Sie verlieren auch ihre ursprüngliche Offenheit, Entdeckerfreude und Gestaltungslust.

Aus neurobiologischer Sicht ist das eine Katastrophe, denn jetzt wird für diese Kinder zunehmend nur noch das bedeutsam, was ihr „ Belohnungssystem“ im Gehirn aktiviert: all das, was sie sich im Außen beschaffen, was ihnen Außen angeboten, was ihnen von Außen als bedeutsam dargestellt wird. Und indem diese Kinder ihr Gehirn nun mit Begeisterung benutzen, um diese Angebote zu nutzen und sich dann eben das zu beschaffen, was sie „ersatzweise“ bekommen können, strukturieren sich auch die in ihrem Gehirn dabei aktivierten neuronalen Netzwerke und Verschaltungen anhand der dabei gemachten Erfahrungen.

So ernüchternd es aus dieser neurowissenschaftlichen Perspektive klingt: Wer Kinder zu passiven Konsumenten und folgsamen Mitläufern erziehen will, sollte sie so früh wie möglich zum Objekt seiner Frühförderungskonzepte machen…

Ob es uns nun gefällt oder nicht: Wir werden uns entscheiden müssen, ob wir das oder lieber etwas anderes wollen.

Netz-Tipps

www.gerald-huether.de

Als Professor für Neurobiologe leitete Gerald Hüther die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Er bemüht sich vor allem um die Verbreitung und Nutzbarmachung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung und führt seine Publikationen auf dieser Seite auf. Unter >Veröffentlichungen >TV-Beiträge besteht die Möglichkeit, sich Interviews und Vorträge anzusehen.

www.sinn-stiftung.eu

Die SINN-STIFTUNG, deren Mitbegründer Prof. Hüther ist, ist eine gemeinnützige Stiftung mit dem Ziel, dass Menschen durch Entwicklungsimpulse in der Gemeinschaft über sich hinaus wachsen und ihr menschliches Potenzial entfalten. Das Ziel der Stiftung lässt sich mit „Kinder + Bildung = Zukunft“ zusammenfassen.

www.uni-magdeburg.de/bio/hirnforschung.htm

Interessante Diskurse jenseits des Elfenbeinturms oder Hirnforschung für jeden: Hier finden sich Texte und Medien aller Art zum Thema „Hirnforschung“.

 

 

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Kommentare (1)

kinder-lobby.at 25 August 2010, 14:19

wie wahr! die kinder-lobby österreich hat sich zum ziel gesetzt, genau diese erkenntnisse und inhalte auch wieder mehr in die köpfe von eltren und erzieherInnen zu bringen!

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