
Was Sie schon immer über Offene Arbeit wissen wollten...
Der folgende Artikel fasst drei Beiträge von Gerlinde Lill zur Offenen Arbeit aus den Heften 08/09/2010 und 10/2010 der Fachzeitschrifte Betrifft Kinder in einem Artikel zusammen. Damit erhalten frühpädagogische Fachkräfte und Einrichtungsleitungen einen exzellenten Einblick in die Möglichkeiten Offener Arbeit und viele Fragen werden beantwortet. Wir danken der Redaktion von Betrifft Kinder herzlich für die Überlassung dieser Beiträge.
Vorbemerkung
„Sagen Sie mir doch bitte mal in drei Sätzen, was Offene Arbeit ist“, werde ich gebeten.
Ich stutze, hebe an und merke: Das ist schwer, selbst für so eine alte Häsin im offenen Gelände, wie ich es bin. Zu groß ist die Vielfalt der Arbeitsweisen, zu sehr ist alles in Bewegung. Erst recht widerspricht es meiner Überzeugung, Prozesse auf eine kurze Formel zu bringen, die festschreibt: So ist es. Oder gar: So ist es richtig. Und dennoch: Es muss doch möglich sein, des Pudels Kern zu fassen.
Das Konzept der Offenen Arbeit boomt. Kaum jemals zuvor wurde ich so oft angefragt, Öffnungsprozesse in Kitas anzustoßen. Kaum jemals zuvor erfuhr ich so viel Widerstand und Zweifel. Beides hängt zusammen.
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Öffnung beginnt im Kopf, beim Nachdenken über gewohnte Arbeitsweisen und ihre Wirkungen, über Veränderungsbedarf und Alternativen. Offene Arbeit ist kein Konzept, das man „implementieren“ kann, sondern ein Prozess aus Praxisreflexion und Praxiserprobung. Auf diesen Prozess wollen sich Praktikerinnen einlassen, weil er Kindern und Erwachsenen gut tut.
Offene Arbeit ist eine Basisbewegung. Davon lebt ihre Entwicklung. Doch in letzter Zeit kommen Öffnungsbestrebungen seltener von der Basis, dafür umso häufiger von Trägern, also von Vorgesetzten. Nicht immer ist klar, was damit bezweckt und unter Offener Arbeit verstanden wird. Die Folge: Wenn Offene Arbeit „verlangt“ wird, machen viele Kolleginnen dicht.
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Wir vom NOA Berlin (1) werden gebeten, Erzieherinnen und Kitateams von Offener Arbeit zu überzeugen und „Haltungsänderungen“ herbeizuführen. Aber es ist nicht nur unmöglich, sondern auch anmaßend, Haltungen ändern zu wollen. Ich bin sicher: Beides kann weder in Vorträgen oder Fortbildungen noch mittels Büchern und Beiträgen gelingen. Einstellungen und Überzeugungen wachsen im (Berufs-)Leben, sind Resultate von Erfahrungen, von persönlicher Verarbeitung. Sie verändern sich nicht, weil plötzlich etwas anderes gilt, erwartet oder erzählt wird. Die Sicht auf Kinder, auf die Berufsrolle, auf Arbeitsweisen kann sich ebenso nur im Ausprobieren, im Erleben und durch neue Erfahrungen wandeln.
Was wir tun können: Kolleginnen ermutigen, sich auf diese neuen Erfahrungen einzulassen und sie gemeinsam zu reflektieren.
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Wer Neues erproben will, braucht Mut. Unklarheit und Druck erschweren den Weg ins Offene, denn sie verstärken Unsicherheit und Angst. Folglich können zwei Faktoren dazu beitragen, sich auf unbekannte Wege und neue Erfahrungen einzulassen: Klarheit und Gelassenheit. Zu beidem möchte ich beitragen – auch mit der Serie, die in diesem Heft beginnt.
Drei Fragen hinter der offenen Tür
Die Fragen zur Offenen Arbeit, die mir bei vielen Veranstaltungen gestellt wurden, ähneln einander. Ich habe sie gebündelt und versuche, sie kurz und möglichst klar zu beantworten – natürlich ohne den Anspruch, allgemeingültige Wahrheiten zu verbreiten. Vielmehr handelt es sich um Positionen, die wir im NOA Berlin entwickelten, in zehn Jahren der Auseinandersetzung mit dem Kern und der Vielfalt offener Arbeitsweisen.
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Fragen sind der Anfang. Antworten sind hilfreich, wenn sie neue Fragen aufwerfen.
Deshalb: Überprüfen Sie meine Antworten an Ihrer Praxis und Ihren Überzeugungen. Und wenn Sie neue Fragen haben – her damit!
Sie können sicher sein: Alles, was Sie immer schon über Offene Arbeit wissen wollten, aber nie zu fragen wagten – hier hat es einen Ort. Beginnend in diesem Heft, erscheint in Betrifft KINDER regelmäßig eine Frage-Antwort-Seite zur Offenen Arbeit.
Sichtbare und unsichtbare Seiten
Was ist Offene Arbeit?
Offene Arbeit ist mehr als ein pädagogisches Konzept und erst recht mehr als ein verändertes Raumkonzept. Es handelt sich um eine Grundeinstellung zum Zusammenleben – speziell in der Arbeit mit Kindern.
Offene Arbeit bedeutet vor allem: ins Offene denken, anderes als das Gewohnte für möglich halten, offen für neue Blickwinkel und Perspektiven sein, für Umdenken und Umhandeln.
Umstrukturierungen – Raum, Zeit, Zuordnungen, Planung, Organisation und weitere Bereiche betreffend – sind Folgen veränderter Ziele und werden daran gemessen.
Im Kern geht es um eine veränderte Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Es geht darum, das Machtverhältnis zu reflektieren und neu zu justieren. Es geht darum, den Spuren der Kinder zu folgen und nicht gegen ihre Impulse, sondern mit ihnen zu arbeiten. Es geht darum, den Kindern einen Ort der Lebensfreude und des Abenteuers zu bieten, an dem sie Futter für ihre Neugier finden, Gelegenheiten bekommen, ihren Mut zu erproben, und auf Erwachsene treffen, die Zeit für sie haben. Es geht ebenso um soziale Verantwortung – als Teil persönlicher Freiheit.
Offene Arbeit bedeutet, eine Lobby für Kinder zu bilden, sich einzusetzen gegen Willkür und Machtmissbrauch, für die Stärkung und Sicherung der Rechte von Kindern.
Fälschlicherweise wird Offene Arbeit in der Kindertagesstätte auf strukturelle Merkmale wie Schwerpunkträume und gruppenübergreifende Kooperation reduziert. Dabei entstandene Begriffe wie „halboffen“, „teiloffen“ oder „gruppenoffen“ stiften Verwirrung. Wenn es um das Aufbrechen eingefahrener Muster und die Bereitschaft zur Reflexion und Veränderung geht, sind Vorsilben wie halb- oder teil- fehl am Platze.
Welchen Zielen und Leitgedanken folgt die Offene Arbeit?
Zentrales Ziel von Öffnungsprozessen ist es, das Streben der Kinder nach Unabhängigkeit und Eigenverantwortung zu unterstützen, ihnen alle denkbaren Chancen einzuräumen, sich in der Gemeinschaft wohl zu fühlen, sich nützlich zu machen und wirksam zu sein.
Doch Öffnungsprozesse zielen nicht allein auf die Emanzipation der Kinder, sondern auch auf die der Erwachsenen. Das Wort Emanzipation scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein. Erinnern wir uns deshalb, was es bedeutet: So selbstbestimmt wie möglich leben, für sich und die Gemeinschaft Verantwortung übernehmen.
Ziel von Öffnungsprozessen in der Kita ist folglich, Erfahrungsräume zu schaffen, in denen geübt werden und zunehmend gelingen kann, Handlungsspielräume auszudehnen und sie in Abstimmung mit anderen Menschen verantwortlich zu nutzen.
Wie entstand Offene Arbeit in der Kita?
Offene Arbeit ist ein Konzept, das
- aus der Praxis heraus entwickelt wurde und weiterentwickelt wird;
- die Kita für alle Kinder öffnet. Niemand wird ausgegrenzt, alle gehören dazu – daher der Name „Offene Arbeit“;
- auf die Unterschiedlichkeit von Kindern und Familien mit differenzierter Arbeit reagiert;
- die Handlungsspielräume von Kindern erweitert und ihre Selbstbestimmungsrechte gegenüber Erwachsenen sichert;
- die Kooperation und gemeinsame Nutzung aller Ressourcen – Raum, Zeit, Personal – und damit die Erfahrungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Kindern und Erwachsenen ausweitet.
Wie sind Inhalt und Grenzen der Offenen Arbeit zu kennzeichnen?
Offene Arbeit hat zwei Seiten. Die sichtbare, auf die sie zumeist reduziert wird – räumliche und organisatorische Öffnung, Flexibilisierung von Strukturen –, und die unsichtbare, die den Kern der Sache ausmacht: Reflexion von Denk- und Handlungsmustern, Wandel des pädagogischen Rollenverständnisses, vom Erleben der Kinder her denken, offen für ihr Fühlen und Denken sein, für das, was sie tun, erforschen, erzählen oder zeigen wollen.
Das bedeutet: Der zentrale Inhalt Offener Arbeit ist die Sensibilisierung der Wahrnehmung, die konsequente Achtsamkeit. Und: Veränderungsbedarf aufspüren, Neues erproben, den Kindern und sich selbst neue Erfahrungen ermöglichen.
Versteht man Offenheit so, gibt es keine Grenzen.
Ist Offene Arbeit unter allen Umständen möglich?
Ja.
Öffnung ist unabhängig von der Größe des Hauses oder dem Alter der Kinder. Offene Arbeit ist immer und überall möglich. Einzige Bedingung: Die Erwachsenen müssen es wollen und wagen – sei es als Abteilungs- oder als Hausteam.
Gerade diese Bedingung ist häufig am schwersten zu erfüllen, denn:
Gemeinsam heißt, das Team macht sich auf den Weg, alle ziehen am gleichen Strang.
Wollen heißt: aus eigenem Entschluss handeln, weil jede Kollegin das Neue ausprobieren will.
Wagen heißt, mutig zu neuen Ufern aufzubrechen. Das bringt immer Überraschungen mit sich. Niemand kann vorhersagen, was passiert.
Was sind Grundvoraussetzungen für Öffnungsprozesse?
Wichtig ist die Klarheit der Orientierung: Wohin soll die Reise gehen?
Diese Reise muss man antreten wollen, sich mindestens auf eine Probefahrt einlassen und sich im Team auf kleine Schritte der Veränderung einigen.
Zweifel, Skepsis, Ängste zu verdrängen oder gar zu bekämpfen, das bringt nichts. Dadurch verschwinden sie nicht. Besser ist, sie ernst zu nehmen und zu bearbeiten. Das bedeutet, die Mitarbeiterinnen und die Sache ernst zu nehmen, denn: Ängste weisen auf Punkte hin, die man beachten und im Auge behalten sollte.
Dennoch: Endlose Debatten erschöpfen nur. Besser ist: ausprobieren und so neue Erfahrungschancen eröffnen.
Irrungen und Verwirrungen
Geht es um Offene Arbeit, werden viele Vorbehalte laut. Die meisten beruhen auf Irrtümern.
So wird „offen“ fälschlicherweise mit offenen Türen gleichgesetzt statt mit dem historischen Kern des Wortes: offen für alle Kinder.
Verbreitet ist auch die Vorstellung und Befürchtung: Offen bedeutet, alle machen, was sie wollen. Es gibt keine Grenzen. Die Kinder rennen den ganzen Tag durchs Haus, die Erzieherinnen sind am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sowohl in der Praxis als auch in Fortbildungen wird Offene Arbeit häufig auf strukturelle Merkmale reduziert, die aus unserer Sicht gerade nicht das Wichtigste sind. Ganz vorn rangieren die sogenannten Funktionsräume, gefolgt von Angebotsplanung in Kombination mit Fachfrauen und Morgenkreisen (2). Glauben Sie mir: Offene Arbeit ist anders.
Heißt Offene Arbeit, alle Türen zu öffnen?
Nein. Qualitätsvolle Offene Arbeit findet zeitweise hinter geschlossenen Türen statt, damit Kinder allein, miteinander oder mit Erwachsenen ungestört agieren können. Eine Tür hinter sich zu schließen, Ruhe zu haben, allein zu sein, das ist ein wichtiges Bedürfnis, dem die Offene Arbeit Raum gibt.
Türen zu öffnen bedeutet, die Beschränkung der Kinder auf bestimmte Räume aufzuheben.
Alle verfügbaren Räume werden als Ganzes gedacht, differenziert gestaltet und genutzt. Den Kindern eröffnet sich damit ein umfangreicheres und vielfältigeres Spielfeld, was wiederum ihre Erfahrungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert. Sie können sich je nach Bedürfnis und Interesse dorthin begeben, wo sie das tun können, was für sie gerade von Bedeutung ist. Ohne einander zu stören oder zu behindern.
Können Kinder immer machen, was sie wollen?
Nein. Die Entscheidungsfreiräume der Kinder zu erweitern bedeutet nicht, Kindern alle Entscheidungen zu überlassen. Einen Teil der erwachsenen Macht und Dominanz abzugeben, bedeutet nicht, die Verantwortung abzugeben. Die Erwachsenen setzen weiterhin den Rahmen, in dem Kinder sich bewegen. „Bis hierher und nicht weiter“ – das gilt im direkten und im übertragenen Sinne.
Wenn die Erzieherinnen etwas für richtig und wichtig halten, wenn sie wollen, dass Kinder dieses tun und jenes lassen, müssen sie das klar und deutlich sagen, dazu stehen, es vertreten und begründen – gegenüber Kindern, Eltern, Kolleginnen, der Öffentlichkeit. Sie offenbaren damit ihre pädagogischen Positionen, ihr Rollenverständnis, ihr Verständnis von Professionalität.
Auseinandersetzungen im Team über Gebote und Verbote, über
Regeln des Hauses und Rechte von Kindern sind ein wesentlicher Teil von
Öffnungsprozessen. Sie schaffen Klarheit – auch darüber, dass die Kolleginnen
nicht machen können, was sie wollen –, vertiefen das gemeinsame Verständnis und
verbessern die Zusammenarbeit.
Müssen wir bei Öffnung alle Kinder im Auge behalten? Wie können wir das schaffen?
Hier liegt eine der Ursachen für Ängste vor Öffnung. „Mit 50 Kindern kann ich mir das vorstellen. Aber mit 150…“ Auch 50 Kinder kann kein Mensch im Auge behalten, und ich bezweifle, dass es mit 25 geht.
In der Offenen Arbeit stellt sich diese Aufgabe nicht oder besser: anders. Bei Öffnungsprozessen geht es nicht um eine Vergrößerung der Anzahl von Kindern, die eine Erzieherin im Blick haben soll. Vielmehr verlagert sich die Verantwortung von der einzelnen Erzieherin auf mehrere Kolleginnen oder das ganze Team.
Kernpunkt im Öffnungsprozess ist daher die Kommunikation und Kooperation im Team. Es gibt Zuständigkeiten für bestimmte Kinder und ihre Eltern – zum Beispiel für Gespräche.
Es gibt Verabredungen darüber, wer sich wann wo aufhält – drinnen und draußen. Und es gibt die Verantwortung für alle Kinder, die sich jeweils im eigenen Blickfeld aufhalten.
Das ist übrigens auch sonst der Fall: Keine Erzieherin kann sich damit entschuldigen, dass ein Kind nicht zu ihrer Gruppe gehört, wenn sie daneben stand, als ihm etwas passierte. Offene Arbeit hilft, diesen Zustand zu verdeutlichen und Gegenmaßnahmen abzusprechen.
Die größte Herausforderung liegt darin, Vertrauen aufzubauen – sowohl in die Kompetenz und Verantwortlichkeit der Kinder als auch in die der Kolleginnen. Dieses Vertrauen kann man nicht voraussetzen, es muss wachsen. Aber wachsen kann es nur, wenn neue Erfahrungen ermöglicht werden, die alte Erfahrungen und Annahmen ersetzen. Das wiederum verweist darauf, Kindern Spielraum für eigene Entscheidungen zu geben, für Wanderbewegungen, Wechsel und freie Wahl – zum Beispiel zwischen drinnen und draußen. Wenn Kinder erweiterte Aktionsmöglichkeiten erhalten, können sie neue Kompetenzen entwickeln und den Erwachsenen zeigen, wozu sie fähig sind.
Sind Funktionsräume das Wichtigste? Soll Öffnung damit beginnen?
Funktionsräume sind weder das Wichtigste noch das Erste, das geschaffen werden muss, wenn Öffnungsprozesse initiiert werden sollen. Schon der Begriff ist problematisch, denn er deutet auf die Funktion von Dingen, nicht auf die Aktionen und das Erleben der Kinder. Darauf aber kommt es an. Und das erfordert ein anderes Vorgehen als das übliche: Funktionsräume von Erwachsenen vorgedacht, vorbestimmt und festgelegt – wie vorher die Gruppenräume.
Sinnvoll ist, das Augenmerk zuallererst darauf zu richten, was die Kinder am liebsten tun und wo sie sich aufhalten, wenn man sie lässt. Denn damit zeigen sie uns, was sie brauchen. Daraus folgt, was räumlich zu bieten und zu verändern ist, welche Verbote und Verhaltensmuster zu überdenken sind.
Einige Beispiele: Wenn Kinder gern hoch klettern und weit springen, dann müssen Bedingungen geschaffen werden, damit sie dies jederzeit und ausführlich tun können. Wenn Kinder ständig rennen wollen, ist es an der Zeit, Rennverbote zu überdenken und Flure als Rennstrecken freizugeben. Wenn Kinder sich gern verkriechen und verstecken, sind Nischen und Höhlen wichtig, in denen sie ungestört und unbeobachtet sind. Wenn die Kinder jede Gelegenheit nutzen, um mit Wasser zu spielen, dann wird es Zeit, Waschräume in Wasserspielplätze zu verwandeln.
In diesen Veränderungen stecken Möglichkeiten, die als Start ins Offene geeignet sind. Sie öffnen den Kindern neue Spielräume und den Erwachsenen ungewohnte Erfahrungsräume. Im Vorfeld und beim Erproben ergibt sich reichlich Diskussionsbedarf, und durch Reflektieren, Ausprobieren und erneut Reflektieren wandeln sich die Sichtweisen. Wetten?
Nachtrag
Bei der Antwort auf die Frage, wie Offene Arbeit in der Kita entstand, folgte ich in Heft 8-9/10 dem roten Faden: Eins ergibt sich aus dem anderen. Heißt die Maxime „offen für alle Kinder“, dann ist die pädagogische Konsequenz differenzierte Arbeit. Sollen Kinder mehr Entscheidungsspielräume erhalten, müssen Alternativen und Wahlmöglichkeiten erweitert werden. Beides erfordert die gemeinsame Nutzung aller Ressourcen, die ohne gute Kooperation im Team nicht funktioniert. Nun folgt die historische Dimension der Frage: Wie und wann entstanden diese konzeptionellen Grundgedanken?
Für alle, die damals nicht dabei waren, hier ein paar Stichwörter. Wer mag, kann Genaueres nachlesen, zum Beispiel bei Rosemarie Gruber und Brunhild Siegel: „Offene Arbeit in Kindergärten“, verlag das netz 2008. Oder in Gerhard Regels Buch „Plädoyer für eine offene Pädagogik der Achtsamkeit“, EB Verlag 2006.
Das offene Konzept entstand in einem gesellschaftlichen Klima des Aufbruchs. Hintergrund war der Widerstand gegen autoritär geprägte Strukturen der Kriegs- und Nachkriegszeit in der alten Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre. Das Motto „Mehr Demokratie wagen“, das Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 ausrief, galt auch für Bildungsinstitutionen. Das Denken öffnete sich, gewohnte Erziehungsvorstellungen wurden auf ihre Absichten und Wirkungen befragt, die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern neu definiert, veränderte Arbeitsweisen in Kita und Schule erprobt.
Bis dahin dominierten Einteilungen nach Jahrgängen, räumliche Enge und ebenso enge Vorgaben der Erwachsenen. Das Normkind was Programm. Dies entsprach weder den Erkenntnissen über kindliche Entwicklungsbedürfnisse noch den sich wandelnden Bildungs- und Erziehungszielen. Zudem erforderte der Wandel der Lebenslagen von Kindern und Familien – Kleinfamilien, Einzelkinder, schwindende Spielräume im städtischen Raum –, die Ansprüche an institutionelle Erziehung, Bildung und Betreuung anzupassen. In dieser Gemengelage aus gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, politischen und pädagogischen Bewegungen gediehen unterschiedliche Veränderungsideen, die einander befruchteten.
In den 1980er Jahren schließlich boomten und konkurrierten neue und wiederentdeckte Konzepte. Inspirationsquellen waren – neben der Besinnung auf Reformpädagogen wie Pestalozzi, Fröbel, Montessori oder Freinet – unter anderem:
- der Situationsansatz: Entwickelt in Projekten des Deutschen Jugendinstituts und in Erprobungsprogrammen erforscht, rückte er die Lebenssituation von Kindern und Familien in den Mittelpunkt. Die Bedürfnisse und Interessen der Kinder wurden zum Ausgangspunkt pädagogischer Planung, Öffnung nach innen und außen zur Maxime.
- Integration: Weg von der Normierung, von der Normalität der Ausgrenzung und hin zu einem Verständnis von Zusammenleben, das Unterschiede als normal ansieht und in dem alle dazugehören. Italien und Finnland zeigten, dass und wie es geht. Eine Pädagogik der Vielfalt erforderte den Umbau gewohnter Strukturen, die Öffnung der Köpfe und Arbeitsweisen. Integrationsschulen erprobten offene Formen des Unterrichts, verzichteten auf frontale Belehrung und setzten auf Binnendifferenzierung und Projektarbeit. Ähnliches geschah in Kitas.
- Reggio Emilia: Die norditalienische Gemeinde wurde zum Mekka reformwilliger Pädagogen. Wahrnehmung mit allen Sinnen, Kreativität und Gestaltungskraft von Kindern, ästhetisch anregende Räume, Zusammenarbeit von Künstlern und Pädagogen, Einbindung von Familien und sozialem Umfeld… Schon damals bezogen sich die Reggianer auf Erkenntnisse der Hirnforschung und waren die ersten, die zeigten, was Dokumentation der Aktionen und Gedanken der Kinder bedeuten kann. Malaguzzis „Hundert Sprachen der Kinder“ wurde zu einem geflügelten Wort und inspirierte die Erwachsenen zum Perspektivenwechsel und Wahrnehmungstraining.
- Psychomotorik: Mit diesem Stichwort verbinden sich Erkenntnisse über die Bedeutung der Bewegung für die kindliche Entwicklung und über die negativen Folgen der „Sitzpädagogik“. Filme wie „Das Schwinden der Sinne“ rüttelten Eltern und Pädagogen auf. Wie entscheidend Bewegungsanreize und -freiräume sind wurde offensichtlich. Der Film „Wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen“ aus einer der ersten Kitas mit offenem Konzept zeigte die Realisierungschancen.
Allen damaligen Konzeptentwürfen war das Anliegen gemeinsam, sich in der pädagogischen Arbeit an dem zu orientieren, was für Kinder bedeutsam ist, welche Ansprüche sie in ihrem Verhalten zeigen und was sie von Natur aus mitbringen. Allen gemeinsam war die Absicht, Kinder in ihrem Tun und Wollen ernst zu nehmen und ihnen mehr Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechte einzuräumen. Allen gemeinsam war, dass gewohnte Arbeitsweisen und das bisherige Rollenverständnis reflektiert und eigene Weiterentwicklung angestrebt werden. Das Besondere am Konzept der Offenen Arbeit lag in der konsequenten Umsetzung veränderter Ansprüche in veränderte räumliche und organisatorische Strukturen:
- Platz und Bewegungsfreiraum entstanden, als man Gruppenräume von Tischen und Stühlen befreite und neue Formen der Essensorganisation einführte: Restaurants;
- Bewegungsräume boten zusätzlichen Raum für ausladende Bewegung und wurden durch die Veränderung des Gruppen- und Gruppenraumkonzepts möglich;
- gemeinsame Nutzung aller Ressourcen – Innen- und Außenräume, Material, Zeit, Personal – war die konzeptionelle Konsequenz, vervielfachte die Aktionsmöglichkeiten der Kinder und setze die Bereitschaft zum Loslassen voraus. An die Stelle von „meine Gruppe, mein Raum, meine Topfpflanzen…“ traten die
- gemeinsame Verantwortung für alle Kinder;
- die Differenzierung von Räumen – Ateliers, Werkstätten, Baubereiche, Schreibbüros, Theaterräume, Traumräume – und speziellen Angeboten;
- die Zuständigkeiten der Erwachsenen für Räume und die Konzentration auf Themenkomplexe oder Wissensbereiche. Eigene Interessen begünstigten die Tendenz zur Spezialisierung;
- die Flexibilisierung der Organisation (Zeiten und Stationen im Tagesablauf) ergab sich aus der Orientierung an den unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse von Kindern und Familien;
- Kinderkonferenzen und Gesprächskreise sicherten Transparenz und die Beteiligung der Kinder. Sie boten Orientierungspunkte im Tagesablauf.
Erprobung und Reflexion wurden zum Motor der Entwicklung, Veränderung zum Dauerprogramm in der Offenen Arbeit. Handlungsforschung wurde zum zentralen Stichwort.
Offene Prozesse waren und sind das Herz der Offenen Arbeit: Weder Wege noch Ergebnisse sind vorgegeben. Gerade deswegen ist es so wichtig, Leitgedanken, Anliegen und Absichten klar zu definieren.
In der langen Geschichte des Offenen Konzepts entstanden in verschiedenen Regionen und Arbeitskreisen unterschiedliche Akzentuierungen. Sie machen wechselseitige Besuche und Fachgespräche fruchtbar und tragen zur Weiterentwicklung der Offenen Arbeit bei, die – angesichts der gegenwärtigen Entwicklung – noch nie so wertvoll war wie heute.
Anmerkungen
(1) Das Netzwerk Offene Arbeit (NOA Berlin) besteht seit März 2001. Es wurde von Berliner Pädagoginnen gegründet – darunter Gerlinde Lill und Christa Möllers als Initiatorinnen – mit dem Ziel, Erfahrungen mit offenen Arbeitsweisen gemeinsam zu reflektieren, das Konzept weiterzuentwickeln und in der Öffentlichkeit dafür einzutreten. Mittlerweile gehören 28 Kolleginnen dem Netzwerk an, die 24 Berliner und Brandenburger Kitas unterschiedlicher Trägerschaft vertreten.
(2) Siehe auch: Lill, G.: Neue Muster in der Offenen Arbeit. Der Morgenkreis. 7/09; Die Angebotspädagogik. 9/09; Regelwerke. 1-2/10; Das Fachfrauenprinzip. 6-7/10
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