Malkreide

Wenn Kinder Grenzen überschreiten – Sensibel und sicher reagieren auf sexuelle Übergriffe unter Kindern

Inga Fielenbach

01.05.2025 | Fachbeitrag Kommentare (0)

Wenn Kinder Grenzen überschreiten, ist sensibles Handeln gefragt. Der Beitrag beleuchtet, wie Fachkräfte sexuelle Übergriffe unter Kindern erkennen, begleiten und mit einer traumasensiblen Haltung Sicherheit schaffen können – für alle Kinder im Alltag der Kita.

In pädagogischen Einrichtungen begleiten wir Kinder auf ihrem Weg, die Welt und sich selbst zu entdecken. Körperlichkeit gehört selbstverständlich dazu: Nähe suchen, Grenzen ausprobieren, einander berühren – all das ist Teil kindlicher Entwicklung. Dazu zählen auch Erfahrungen wie sich ausgiebig die Hände einzuseifen, sich gegenseitig einzucremen, gemeinsam im Sand zu matschen oder sich im Spiegel neugierig selbst zu betrachten.
Kindliche Sexualität ist geprägt von Sinnesfreude, Entdeckerlust und dem Bedürfnis nach Nähe und Zugehörigkeit. Sie ist körperlich und sinnlich, aber nicht auf Sexualität im erwachsenen Sinne ausgerichtet. Während erwachsene Sexualität mit Lustgewinn, sexueller Erregung und Intimität im partnerschaftlichen Kontext verbunden ist, dient kindliche Sexualität der Selbstwahrnehmung, dem Erkunden des Körpers und der sozialen Welt – spielerisch, offen und ohne sexuelles Ziel.
Doch manchmal geraten Kinder dabei in Situationen, in denen sie – meist unbeabsichtigt – die Grenzen anderer überschreiten. In diesen Momenten wird deutlich, wie fein die Balance zwischen natürlicher Erkundung und dem Schutz persönlicher Grenzen ist. Besonders im Bereich sexueller Grenzverletzungen braucht es deshalb eine feine Wahrnehmung und sichere Handlungskompetenz.

Zwischen Erkundung und Grenzverletzung – was gehört wohin?

Nicht jedes körperliche Verhalten unter Kindern ist Anlass zur Sorge. Viele Formen körperlicher Nähe – wie gemeinsames Kuscheln oder gegenseitiges Anschauen des Körpers – gehören zum normalen Entdeckungsverhalten.
Wie das WHO-Regionalbüro für Europa und die BZgA (seit Februar "Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit) betonen:

"Wenn es um das Sexualverhalten von Kindern und Jugendlichen geht, muss man sich bewusst sein, dass sich kindliche Sexualität grundlegend von der Sexualität Jugendlicher und Erwachsener unterscheidet."
— WHO-Regionalbüro für Europa & BZgA, Standards für die Sexualaufklärung in Europa, S. 39

Aber es gibt auch Situationen, die über einvernehmliches, entwicklungsentsprechendes Verhalten hinausgehen. Wenn ein Kind ein anderes gegen dessen Willen berührt, unter Druck setzt oder wiederholt in seiner Intimsphäre verletzt, sprechen wir von sexuellen Übergriffen unter Kindern.

Diese Grenzverletzungen sind dennoch nicht mit dem Verhalten von Erwachsenen gleichzusetzen. Kinder, die Grenzen überschreiten, sind nicht "Täter*innen" im strafrechtlichen Sinne und Kinder, deren Grenzen überschritten wurden, sind keine Opfer, sondern Betroffene Kinder. 

Verunsicherung rund um kindliche Sexualität – ein häufiges Gefühl

In meiner Arbeit mit pädagogischen Fachkräften erlebe ich immer wieder: Das Thema kindliche Sexualität löst grundsätzlich eine starke Verunsicherung aus – nicht nur, wenn es um sexuelle Übergriffe unter Kindern geht.

  • Was ist noch normal?
  • Wann muss ich eingreifen?
  • Wie spreche ich mit den Kindern?
  • Und wie reagiere ich gegenüber den Eltern?

Diese Unsicherheit ist verständlich – schließlich sind alle Fachkräfte bei diesem Thema auch mit ihrer eigenen Prägung, Geschichte und Erfahrung rund um Sexualität konfrontiert. Je nach eigener Biografie wenden sie unbewusst unterschiedliche Filter auf die Beobachtung und Einschätzung von Situationen an. Viele Fachkräfte spüren in diesen Situationen zwar ein Bauchgefühl, doch ist es wichtig, dieses nicht allein zur Entscheidungsgrundlage zu machen. Erst die bewusste Aneignung von Fachwissen, eine gemeinsame Haltung im Team und der kontinuierliche kollegiale Austausch können helfen, die eigene Wahrnehmung zu erweitern und ein umfassenderes Bild der Situation zu gewinnen. Gleichzeitig kann Verunsicherung dazu führen, dass Situationen bagatellisiert oder überdramatisiert werden.
Beides schadet dem Kinderschutz.

Was brauchen Fachkräfte, um sicher handeln zu können?

Eine tragende Grundlage für sicheres Handeln bildet fundiertes Fachwissen:

  • zur sexuellen Entwicklung von Kindern,
  • zur Unterscheidung zwischen altersgemäßem Explorationsverhalten und grenzverletzendem Verhalten,
  • zu klaren Handlungswegen und Verfahrensabläufen im Verdachtsfall.

Ein sicherer Rahmen im Team und klare Verfahren, wie zum Beispiel die Einbindung einer Kinderschutzfachkraft helfen, das eigene Handeln nicht allein tragen zu müssen.

Erste Schritte im Verdachtsfall

Wenn eine Grenzverletzung beobachtet oder vermutet wird, gilt:

  • Beobachten und dokumentieren: Was genau ist geschehen? Was habe ich gesehen und gehört? Worte, Gesten, Handlungen?
  • Ruhe bewahren: Kinder sensibel begleiten, nicht drängen oder moralisieren.
  • Im Team reflektieren: Die Beobachtung wird kollegial eingeordnet, erste Einschätzungen erfolgen gemeinsam.   

Eine offene Teamkultur, die Unsicherheiten erlaubt und kollegiales Reflektieren unterstützt, ist eine wesentliche Schutzressource im Alltag.

Bei Verdacht auf eine Grenzverletzung sollte eine insoweit erfahrene Fachkraft (IseF) hinzugezogen werden. Gemeinsam wird geprüft, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und ob gemäß §8a SGB VIII eine Information an das Jugendamt notwendig ist.

Der Schutz aller Kinder steht im Mittelpunkt

In der Begleitung von Kindern, die Grenzen überschreiten, brauchen wir eine traumasensible Haltung. Eine traumasensible Haltung bedeutet, kindliche Signale ernst zu nehmen, Verhaltensweisen im Kontext von Erfahrungen zu deuten und Kindern durch verlässliche Grenzen und Empathie Sicherheit und Würde zu schenken.
Dies bedeutet konkret:

  • Beide Kinder – das betroffene und das grenzverletzende – verdienen Schutz, Begleitung und klare Orientierung.
  • Es ist wichtig zu verstehen: Selbst wenn es in der beobachtbaren Situation ein betroffenes und ein übergriffiges Kind gibt, sind beide betroffen. Kinder, die grenzverletzend agieren, zeigen damit oft ihre eigenen Erfahrungen und Prägungen. Sie brauchen ebenso feinfühlige, klare und deutliche Unterstützung.
  • Kinder, die Grenzen überschreiten, dürfen nicht stigmatisiert werden.
  • Kinder verhalten sich so, wie sie ihre Welt erlebt haben und wie mit ihnen umgegangen wurde. Es braucht ein fein abgestimmtes Vorgehen: klare Grenzen, liebevolle Führung, therapeutische Unterstützung, falls notwendig.

"Kinder brauchen Erwachsene, die sie sehen, die ihnen zuhören und die ihre Würde schützen."
— Prof. Dr. Jörg Maywald, Kinderschutz in der Kita. Grundlagen und Praxiswissen, 2015

Dieser Schutzauftrag umfasst alle Kinder – sowohl diejenigen, die Grenzverletzung erleben, als auch diejenigen, die sie überschreiten.

Fazit: Sicherheit wächst mit Wissen und Haltung

Sexuelle Übergriffe unter Kindern sind eine große Herausforderung – und sie fordern uns in unserer fachlichen und persönlichen Haltung heraus.
Doch niemand muss diese Situationen allein bewältigen.
Durch fundiertes Wissen, klare Handlungswege und eine traumasensible Haltung können Fachkräfte Sicherheit gewinnen und den Kindern Schutzräume eröffnen, in denen sie heilsame Erfahrungen machen können.

Vertiefende Fortbildungen ermöglichen es pädagogischen Teams, noch sicherer zu handeln – und die Schutzkonzepte lebendig mitzugestalten.

Autorin:
Inga Fielenbach, Sexualpädagogin, Kinderschutzfachkraft, traumasensible Fortbildnerin und systemische Familientherapeutin. Weiterbildungsleitung der „Zertifizierten Spezialisierung im Kinderschutz: Sexualpädagogische Intervention, Trauma-Sensibilität und Sexualisierte Gewalt“.
www.ingafielenbach.de

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