zwei U3 Kinder

Wie entwickelt sich das Demokratieverständnis bei Kindern?

Dr. Erika Butzmann

28.03.2023 | Fachbeitrag Kommentare (3)

Inhalt
  1. Einleitung
  2. Die sichere Bindung als wesentliche Voraussetzung für demokratisches Verständnis
  3. Partizipation in der Krippe als Vorläufer für das Demokratieverständnis?
  4. Selbstwirksamkeit als Ziel bei der Erziehung zur Demokratiefähigkeit
  5. Die mangelnde Entscheidungsfähigkeit kleiner Kinder bei Auswahlmöglichkeiten
  6. Soziales Verhalten als Vorläufer des Demokratieverständnisses
  7. Das Regelverstehen als konkreter Vorläufer für das Demokratieverständnis
  8. Das Demokratieverständnis bei den Fünf- und Sechsjährigen
  9. Bildungsprogramme zur Demokratiebildung in den Kitas
  10. Demokratieverständnis bei Grundschulkindern
  11. Zusammenfassung
  12. Literatur

Einleitung

Die Krippe wird inzwischen von den pädagogischen Experten als „Kinderstube der Demokratie“ bezeichnet, weil sie dort erleben, wie große und kleine Menschen zusammen ihren Alltag organisieren. Die Organisation des Alltags ist jedoch noch lange nicht im Wahrnehmungsbereich der Kinder, um daraus für das Demokratieverständnis etwas zu lernen. Die Partizipationsangebote laufen ins Leere, weil für die Krippenkinder ein ganz anderes Thema wesentlich ist: sie sind aufgrund ihrer psychischen Verletzlichkeit in den ersten drei Jahren gerade in der Fremdbetreuung vollständig auf das Versorgt- und Geschütztwerden durch die Erwachsenen angewiesen. Ihr Ichbewusstsein ist noch im Aufbau, so dass die Geschehnisse um das Kind herum noch nicht auf die eigene Person bezogen werden können. Ohne voll ausgebildetes Ichbewusstsein kann auch der Sinn von Partizipation als Vorläufer des Demokratieverständnisses nicht erfasst werden.

Um den normalen sozial-kognitiven Entwicklungsprozess zu fördern sind bei der Entwicklung des Demokratieverständnisses besondere Voraussetzungen zu beachten. Diese werden im Folgenden näher erläutert, damit deutlich wird, warum Kinder erst im späteren Grundschulalter den Sinn der Demokratie verstehen.

Die sichere Bindung als wesentliche Voraussetzung für demokratisches Verständnis

Die sichere Bindung und die weitgehende Anwesenheit der Eltern in den ersten zwei bis drei Jahren ist die wichtigste Voraussetzung, um allen emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, die in ihrem Ursprung angeboren sind, zur Ausbildung zu verhelfen. Die Krippe kann nicht als Kinderstube der Demokratie gelten, da sie keinen Ersatz für die Eltern-Kind-Bindung bietet und der Bezug zu den Gleichaltrigen noch keinen sozialen Effekt hat. Denn in den ersten beiden Lebensjahren sind die Kinder aufgrund der fehlenden Ich-Andere-Unterscheidung noch ganz auf sich selbst bezogen und reagieren auf andere nur über die Gefühlsansteckung (Bischof-Köhler 1989, Butzmann 2020a, S. 78f.). Erst zum Ende des dritten Lebenjahres kommt es zum bewussten gemeinsamen Spiel, das in den folgenden zwei bis drei Jahren zu sozialen Erkenntnissen führt. 

Partizipation in der Krippe als Vorläufer für das Demokratieverständnis?

Die vermeintliche Selbstbestimmung der vorsprachlichen Kinder in der Krippe klappt durch die angeborene hohe Anpassungsbereitschaft und die in den ersten beiden Jahren noch weitgehend unbewusste Nachahmung gleichaltriger und älterer Kinder. Die von den Experten als Partizipation genannten Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf den Platz am Tisch, die selbstständige Essensaufnahme, die Auswahl eines Spiels, die Art des Zähneputzens oder Wickelns, das Anziehen in der Gruppe oder das Aussuchen des Schlafplatzes und der Schlafenszeit (Durand/Birnbacher 2021) laufen fast automatisch ohne dass dem Kind die ‚Selbstbestimmung‘ bewusst wird. Diese setzt voraus, dass das Kind sein Handeln reflektieren und Situationen einschätzen kann. Das ist erst möglich, wenn das Ichbewusstsein zwischen drei und vier Jahren stabil genug ist und dann äußere Vorkommnisse auf die eigene Person bezogen werden können. Bei den Fachkräften kommen solche Handlungen als bewusstes und kompetentes Handeln und als Selbstbestimmung an. Es wird dabei möglicherweise übersehen, wenn das Kind unter Anspannung steht aufgrund seiner hohen Anpassungsleistung, die ihm noch nicht bewusst ist. Zum Beispiel sind viele der Einjährigen noch darauf fixiert, gefüttert zu werden. Wenn das nicht passiert, müssen sie sich anpassen; der Hunger ist ein effektiver Antrieb. Ein so angestoßenes Training zur Selbstbestimmung führt zur äußeren Selbstständigkeit (Butzmann 2021 a). Der Sinn des Tuns kann noch nicht erfasst und die Leistung nicht bewusst der eigenen Person zugeordnet werden. Zu Hause führt das zum Rückfall in die totale Abhängigkeit von den Eltern. Die Kinder sind dort auf die volle Versorgung fixiert, da im positiven Fall kein Anlass zur Anpassung besteht. Insofern ist mit einer derartigen Partizipation weder ein Nutzen für die Selbstständigkeit noch für die ‚Demokratiefähigkeit‘ vorhanden, sondern die ständigen Anpassungsleistungen der Kinder führen möglicherweise zu Dauerstress, der die Entwicklung einschränkt. Die Selbstversorgung beim Essen verlängert darüber hinaus die Essenszeiten. Das kommt den Kleinsten durchaus entgegen, denn das enge Zusammensitzen mit den anderen Kindern und einer Betreuungsperson kann den Kindern, die sich in der Krippe nicht sicher fühlen, ein wenig Sicherheit bieten. Für die anderen Kinder vermindert sich dadurch das entwicklungsfördernde freie Spiel oder die Schlafenszeit.

Selbstwirksamkeit als Ziel bei der Erziehung zur Demokratiefähigkeit

Die durch Partizipation zu erreichende Selbstwirksamkeit kann aus den geschilderten Gründen von den Kleinsten nicht empfunden werden. Zumal die von den Experten genannten verschiedenen Bereiche der Möglichkeiten für Krippenkindern, Selbstwirksamkeit zu erfahren, in den ersten zwei bis drei Jahren weitgehend durch biologische Antriebe gesteuert werden. Solange die Impulskontrolle noch nicht ausgebildet ist, handeln die Kinder nach ihre Impulsen, die in den ersten drei Jahren durch eine starke Ichbezogenheit (Piaget 1999) gesteuert werden. Sie reagieren ansonsten nur auf Anregungen und über die Nachahmung. So kommen die vermeintlich selbstwirksamen Aktionen zustande, der Sinn der Übung erschließt sich den Kindern jedoch noch nicht. Die ersten Anzeichen eines deutlichen Gefühls der Selbstwirksamkeit sind zu erkennen, wenn das Kind in die Phase kommt, alles allein machen zu wollen (Butzmann 2021a). Dieser Wunsch wird mit Vehemenz vertreten und mit Wutanfällen begleitet, wenn das nicht gelingt. Die dabei erlebten starken Gefühle führen zur Speicherung der Erfahrung und hinterlassen bei Erfolg ein positives Empfinden, ohne dass den Kindern dieser Prozess bewusst ist. Sie nehmen nur die guten Gefühle wahr, die sie zum Weitermachen motivieren. Bei Anleitungen zur Parzipation ist eine Auswirkung auf das Gefühl der Selbstwirksamkeit unwahrscheinlich, weil hier solche Gefühle kaum eine Rolle spielen. Lediglich die Herausforderungen beim Freispiel, wenn die Kinder diese selbstständig bewältigen und die dann auch mit starken Gefühlen verbunden sind, haben eine positive Wirkung auf das Selbstempfinden.

Die mangelnde Entscheidungsfähigkeit kleiner Kinder bei Auswahlmöglichkeiten

Die altersgemäße Mitbestimmung ist in der Krippe noch weitreichend fehl am Platz, weil die Kinder bis ins fünfte Lebensjahr hinein Probleme haben, sich zwischen zwei oder mehreren positiven Dingen zu entscheiden. In der Praxis ist täglich zu sehen, wie das abläuft. Entweder wechseln die Kinder zwischen den angebotenen Möglichkeiten hin und her, ohne sich für eine Sache letztendlich entscheiden zu können oder sie entfernen sich, weil ihnen das Prozedere zu viel ist. Durch die besondere Denkstruktur der zwei bis vierjährigen Kinder fallen ihnen Entscheidungen schwer. Sie können verschiedene Dinge nicht gleichzeitig bedenken und wahrnehmen, sondern nur nacheinander (Kegan 1986, S. 126; Butzmann 2011, S. 33). Das führt zum Wechsel von Aussagen ohne dass dies dem Kind bewusst ist. Nur in Fällen, wo die Alternative für das Kind unannehmbar ist, kann es sich gegen das Negative entscheiden. Dann will es einfach etwas nicht. Eine immer wieder angebotene Auswahlmöglichkeit setzt das Kind jedoch unter Druck. Krippenkinder erwarten von den Erwachsenen, dass diese sagen, was ansteht. Ihr Denken verschafft ihnen noch keinen Überblick über Situationen, so dass sie auf die Ansagen der Fachkräfte angewiesen sind.

Soziales Verhalten als Vorläufer des Demokratieverständnisses

Soziales Verhalten als Vorläufer des Demokratieverständnisses lernen Kinder erst bei einer Gruppenbetreuung ab drei Jahre, und zwar in erster Linie durch das Rollenspiel. In der Zeit vorher wird soziales Verhalten wie Trösten und Helfen durch die unbewusste Gefühlsansteckung hervorgerufen und danach verhindert das ichbezogene Denken der Zwei- und Dreijährigen häufig noch empathisches Verhalten (Butzmann 2020 b). Zwischen drei und vier Jahren schlüpfen die Kinder im Spiel in bestimmte Rollen bevor sie begreifen, was soziales Verhalten bedeutet. Um die Spielhandlung aufrecht zu erhalten oder Konflikte aufzufangen, können sie von einer Rolle in die andere wechseln, da die rege Phantasietätigkeit aufgrund des transduktiven Denkens (Butzmann 2021b) solchen Wechsel ermöglicht. Der Rollenwechsel geschieht unabhängig von der noch nicht vorhandenen Fähigkeit zur kognitiven Rollenübernahme, denn zu Beginn des sozialen Rollenspiels kann das Kind nur Schlussfolgerungen über das Verhalten eines anderen ziehen, die seinen eigenen Ansichten entsprechen. Die egozentrischen Bedürfnisse des Kindes stehen beim Spiel noch im Mittelpunkt, die Bedürfnisse des anderen werden jedoch registriert. Der Wunsch zum Weiterspielen führt dann ab vier Jahren zur wechselseitigen Anpassungsbereitschaft. So kann das beiderseitige Bedürfnis, eine dominante Rolle im Spiel zu übernehmen, jeweils akzeptiert und befriedigt werden. Die Aufrechterhaltung des Spiels ist damit gesichert und müheloses soziales Lernen möglich, obwohl die Fähigkeit zur echten Kooperation noch nicht vorhanden ist. Erst im Alter von fünf bis sechs Jahren wird den Kindern soziales Verhalten bewusst. Sie bemühen sich dann um regelkonforme Umgangsweisen.

Erzieherinnen haben im Sinne eines demokratischen Verständnis-Vorlaufs die Aufgabe, den Kindern bei Konflikten zu helfen, wenn diese es selbst nicht schaffen. Dabei darf nicht mit den Kindern geschimpft, sondern dem ‚Täter‘ muss  erläutert werden, was sein Handeln beim ‚Opfer‘ bewirkt hat. Danach muss der Fall abgehakt sein, damit das Kind die Chance bekommt, über sein Verhalten nachzudenken. Denn kleine Kinder lernen nicht durch Kritik oder Bestrafung, sondern mit der Erfahrung, durch ihr falsches Verhalten nicht verdammt zu werden. Ein solcher Umgang mit Regelverletzung ist während der ganzen Vorschulzeit nötig, damit der soziale Lernprozess nicht gestört wird. Mit Schulbeginn zeigen die Kinder dann aufgrund des sich weiterentwickelnden sozialen Verstehens zunehmend angemessenes Verhalten. Dafür sorgt bei einer sicheren Eltern-Kind-Bindung die biologisch angelegte Grundmotivation der Kinder, sich richtig zu verhalten. Der Prozesse wird durch von außen einwirkende Lernprogramme zum Demokratieverständnis eher gestört. Partizipation im Alltag fordern die Kinder von sich aus ein, wenn die Atmosphäre stimmig ist, das muss ihnen nicht beigebracht werden.

Das Regelverstehen als konkreter Vorläufer für das Demokratieverständnis

Die Entwicklung des Regelverstehens der Kinder als Vorläufer für demokratisches Handeln muss in der Kita im Blick behalten werden; sowohl bei der Regelfestsetzung als auch bei der Einhaltung der Regeln durch die Kinder unterschiedlichen Alters (Butzmann 2020a, S. 183). Das bedeutet, es darf keine negativen Reaktionen der Erzieherinnen bei Regelverletzungen geben, sondern lediglich der Hinweis auf die bekannte oder neue Regel. Nur dann ergibt sich daraus mit der Zeit ein Verständnis für Prozesse des Zusammenlebens. Da Kinder erst zu Beginn der Grundschule den Sinn der Regeln verstehen, wird sich dann auch die Achtung vor gemeinsamen Beschlüssen entwickelt. Programme dazu in den Kitas dürften oberflächlich bleiben, weil die Kinder den Zusammenhang noch nicht verstehen.

Das Demokratieverständnis bei den Fünf- und Sechsjährigen

Am Verhalten der fünf- bis sechsjährigen Kinder ist zu erkennen, dass Programme zum Demokratielernen in den Kitas nicht viel nutzen. Denn in dem Alter versuchen sie mit Macht über die andern zu bestimmen. In ihrem normalen Entwicklungsprozess sind sie an dem Punkt angelangt, wo sich das Gehirn umbaut und zwischen sechs und sieben Jahren die Schulfähigkeit ermöglicht. Aus dem vorlogischen, transduktiven Denken (Butzmann 2021b), das die Phantasietätigkeit hervorbrachte, entsteht jetzt ein durchgängig logisches Denken. In dieser Übergangsphase sind die Kinder ganz auf sich selbst bezogen, weil sie versuchen, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten mit ihrer Person in Zusammenhang zu bringen, um ein Bild von sich selbst zu erhalten. Von diesem Zeitpunkt an kann man erst von Selbstbewusstsein des Kindes sprechen. Das Verständnis für die Bedürfnisse der anderen ist bei den Fünf- bis Sechsjährigen vorübergehend eingeschränkt, weil das eigene Können und Wollen im Mittelpunkt steht. Sie bestimmen über andere oder wollen Anführer sein, weil sie überzeugt sind, es besser zu wissen als die anderen. Im Spiel fangen die Kinder diese Probleme auf, indem sie sich z.B. in der Anführerschaft abwechseln. Mit der Regelung der daraus in den Kita-Gruppen entstehenden Konflikte haben die Erzieherinnen genug zu tun. Die Vermittlung von Respekt vor dem anderen ist hier kaum möglich, weil die Gehirne besonders der Jungen mit etwas ganz anderem beschäftigt sind. Das sollte die Fachkräfte jedoch nicht davon abhalten, diesen Kindern die Sichtweise der anderen nahezubringen.

Bildungsprogramme zur Demokratiebildung in den Kitas

Bildungsprogramme zur Partizipation bleiben oberflächlich, denn Selbstbestimmung muss im Tagesverlauf den Kindern bei normalen Tätigkeiten angeboten werden, um Eingang in ihr Selbstverständnis zu finden. Das bedeutet, alles was sie selbst machen wollen, sollte zugelassen werden; es genügt, wenn die Wünsche nach Beteiligung Beachtung finden. Vorschläge zur Beteiligung bei bestimmten Alltagssituationen müssen konkret auf eine Sache bezogen sein, da sich die bis zu vier/fünfjährigen Kinder auf Grund ihrer besonderen sozial-kognitiven Denkweise noch nicht gut zwischen verschiedenen Sachen entscheiden können, wie das oben näher ausgeführt ist.

Bei den Hochglanzbroschüren zur Demokratiebildung in den Kitas, z.B. von der Amadeo Antonio Stiftung oder dem Nifbe, sind die sehr differenzierten Ausführungen aus der Sicht der Experten geschrieben. Sie sparen dabei jedoch den gesamten sozial-kognitiven Entwicklungsprozess der Kinder mit seinen Besonderheiten (Butzmann 2020a) aus und ignorieren die Erfahrungen aus der Praxis. Es besteht dadurch die Gefahr, sowohl die Kinder als auch die Erzieherinnen zu überfordern. Diese müssten neben dem ständigen Eingehen auf die Befindlichkeit besonders der Kleinsten viel Zeit für das Zulassen der vermeintlichen Selbstbestimmung der Kinder aufbringen, da diese sich nicht einfach für etwas entscheiden können. Das wäre vielleicht erfolgreich bei einer 1:1 Betreuung.

Demokratieverständnis bei Grundschulkindern

In den ersten beiden Jahren der Grundschule sind die Kinder noch sehr auf sich selbst bezogen, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Die ersten demokratischen Handlungen befassen sich mit der Wahl des/der KlassensprecherIn. In der weiteren Grundschulzeit kann dann durch Praxisprojekte das Demokratieverständnis der Kinder gefördert werden. Diese anfangs einfachen Projekte wie Gestaltung des Klassenzimmers oder das Betreiben eines Schulgartens fördern das konkrete Miteinanderlernen, das wiederum mit starken Gefühlen verbunden ist und damit Nutzen für das spätere Demokratieverständnis haben. Das Gleiche gilt für die freien Spiele mit Gleichaltrigen, die gerade in diesem Alter demokratische Elemente enthalten. In der dritten und vierten Klasse ist die sozial-kognitive Entwicklung dann so weit fortgeschritten, dass die Bedürfnisse der Gruppe im Denken der Kindern verankert werden (Piaget/Inhelder 1977; Damon 1984, S. 290). Sie sind dann in der Lage, die Sichtweisen mehrerer Personen gleichzeitig zu bedenken. Ab der vierten Klasse macht es auch Sinn, demokratische Lerninhalte zu vermitteln. 

Wenn alle reifungsbedingten Fähigkeiten der Kinder sich in den ersten drei Jahren gut entwickeln konnten in einer verständnisvollen Familie und später ergänzend über einen halben Tag in der Kita, dann sind die Grundlagen vorhanden, um sich im Laufe der überwiegend halbtags stattfindenden Grundschule demokratisches Wissen anzueignen. Denn dieses Wissen benötigt weiterhin ausreichende Erfahrungen in der Familie, in Vereinen und im Freundeskreis ohne die einzwängenden Zeitpläne einer Ganztagsbetreuung.

Zusammenfassung

Wie gezeigt werden konnte, sind die Anforderungen der Experten für das Demokratie-Lernen in den Kitas mit den sozial-kognitiven Fähigkeiten der Kinder nicht vereinbar. Das gilt in besonderem Maße für die Krippenkinder, deren Ichbewusstsein erst im Aufbau ist, was ein Lernen aus Partizipationsangeboten unmöglich macht. Ebenso wenig können die geforderten strukturell zu verankernden Beteiliungsformate wie ein Kita-Rat, Kinderkonferenzen, Beschwerdeverfahren und eine Kita-Verfassung (Durand/Birnbacher 2021) das Demokratielernen voranbringen. Die vorlogische, transduktive Denkweise (Piaget 1975, Selman 2006, Butzmann 2011 und 2021) der Kinder bis 5 Jahre lässt einen Umgang mit Gruppenentscheidungen nicht zu. Für die fünf- und sechsjährigen sind Projekte hilfreicher, die das soziale Verstehen des Gegenübers zum Thema haben, besonders für Kinder mit Defiziten im sozialen Verhalten.  

Zum Demokratielernen und sozialen Verstehen in der Kita nutzen keine Bildungsprogramme.  Die wesentliche Voraussetzung für dieses Lernen ist der wertschätzende Umgang mit den Kindern. Wenn dabei auf die Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer der Kinder geachtet wird und die Fortschritte im Lernen und Verhalten benannt werden, entwickeln sich die Grundlagen für späteres demokratisches Denken und Handeln von ganz allein. Dabei darf vor allem in Anbetracht des bedrängenden Bildungsbestreben der Experten das demokratieförderliche Potenzial des freien Spiels nicht vergessen werden.

Literatur

Bischof-Köhler, Doris, 1989. Spiegelbild und Empathie. Die Anfänge der sozialen Kognition. Bern: Huber.

Butzmann, Erika, 2011. Elternkompetenzen stärken. Bausteine für Elternkurse. München: Reinhardt-Verlag.

Butzmann, Erika, 2020a. Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Butzmann, Erika, 2020b. Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/empathie-und-soziales-verstehen-in-den-ersten-lebensjahren.html

Butzmann, Erika, 2021a.Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/entwicklung-der-kindlichen-selbststaendigkeit.html 

Butzmann, Erika. 2021b. Verfügbar unter: https://www.erzieherin.de/kleine-entwicklungspsychologie-die-helfen-kann-kindergartenkinder-besser-zu-verstehen.html

Damon, William, 1984. Die soziale Welt des Kindes. Frankfurt: Suhrkamp-Verlag.

Durand, Judith und Leonard Birnbacher, 2021. Demokratiebildung in der Kita. DJH-Impulse 1.

Kegan, Jerome. 1986. Die Entwicklungsstufen des Selbst. München: Kindt-Verlag.

Piaget, Jean, 1975. Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kind. Stuttgart: Klett-Cotta.

Piaget, Jean, 1999. Über Pädagogik. Weinheim: Beltz-Verlag.

Piaget, Jean und Bärbel Inhelder, 1977. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt: Fischer-Verlag.

Selman, Robert L., 2006. Niveaus der sozialen Perspektiveübernahme. In: Garz, Detlef. Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. 3. Auflage, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 144-164.

Autorin:
Dr. Erika Butzmann
Entwicklungspsychologin 
Erziehungswissenschaftlerin
 
*Erste Version vom 27.05.22, überarbeitet am 28.03.2023

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Kommentare (3)

Dr. Erika Butzmann 03 April 2023, 18:28

Hallo Frau Schneider, gern beantworte ich Ihre Fragen.
Das von Ihnen beschriebene differenzierte Sozialverhalten wird in erster Linie gesteuert durch die Gefühlsansteckung. Darüber hinaus wirken in der sozialen Interaktion der Spielantrieb, der Nachahmungsantrieb, das Erkundungsverhalten und die hohe Anpassungsbereitschaft gerade im zweiten Lebensjahr. Dass diese Fähigkeiten vorhanden sind, ist sicher im Alltag gut zu erkennen und das aus dem sogenannten Kernwissen entstehende Verhalten zeigt sich auch immer wieder irgendwie. Das muss jedoch nicht mit dem Ichbewusstsein und absichtsvollem Handeln zusammenhängen. Das Erkundungsverhalten ist der Auslöser für das „Forschende Kind“, das keiner gezielten Förderung von außen bedarf. Denn das Kind hat von Beginn an alle Grundlagen zur Ausbildung seiner Fähigkeiten, die sich in den ersten zwei Jahren weitgehend impulsgesteuert zeigen. Das absichtsvolle Handeln, das im Babyalter beginnt, vermischt sich im Laufe der Entwicklung mit den Impulsen und zum Zeitpunkt des Selbsterkennens zwischen 18 und 24 Monaten kommt es zu zielgerichtetem absichtsvollen Handeln, das dann zu schöpferischem Erfinden führt.
Es sind also keine Defizite, die ich beschreibe, sondern die wertfreien entwicklungsbedingten Verhaltensweisen, die von der Säuglingsforschung weitgehend missachtet und ausschließlich unter dem Blickwinkel der Forscher/innen interpretiert wurden. Dazu gab es bereits Artikel in der G&G, in der Psychologie heute und Bischof-Köhler (2023) kann Erhellendes dazu berichten; ebenso die Neurobiologinnen Becker und Stern. Die Ergebnisse der Hirnforschung berücksichtige ich grundsätzlich, wie Sie an meinen anderen Artikeln sehen können. Sie stimmen im übrigen genau überein mit den Aussagen der sozial-kognitiven Entwicklungstheorien. Pickler hat in erster Linie gezeigt, wie der liebevolle Umgang einer bestimmten Bezugsperson bei den Pflegearbeiten zu ausgeglichenen Kindern führte.
Für das Demokratieverständnis ist der sozial-kognitive Entwicklungsprozess zu berücksichtigen, was sich selbstverständlich im regelkonformen Verhalten zeigt und erst im späteren Grundschulalter zur mehrfachen Perspektive-übernahme führt.
Auch die kreuzmodale Wahrnehmung hat ein biologischen Grundmuster und dabei einen bestimmten Entwicklungspfad, wobei das kognitive Erfassen den Weg über die beschriebenen Schritte nimmt. Das habe ich im Text durch Beispiele belegt.
Wie sich das Demokratieverständnis in der Gruppenbetreuung entwickelt ist durchaus im Artikel dargestellt, ebenso dass diese neben der Familie ab drei Jahre als Unterstützung wirkt. Das Demokratielernen in der Familie hat natürlich auch gleichberechtigte Beziehungen durch Geschwister, andere Familienmitglieder und Spielkameraden. Darüber hinaus ist sie im Falle der asymmetrischen Beziehungen ein guter Lernort für das Demokratieverständnis, da die Bedürfnisse unterschiedlicher Beteiligter einbezogen werden müssen.
Zur Selbstbestimmung gehört das Icherkennen ohne das kein Lernen für das soziale oder demokratische Verhalten möglich ist. Wenn Sie nicht wissen, wer Sie sind, können Sie äußere Vorkommnisse logischerweise nicht auf sich selbst beziehen. Äußere Vorkommnisse werden zwar wahrgenommen, aber nicht bewusst auf die eigenen Person bezogen. Wenn darauf reagiert wird, wirken die oben beschriebenen Antriebe. Dazu hier ein Beispiel von Wüstenberg: „…Anna 1;5 und Olle 1;7 beginnen sich vor- und zurückzubewegen. Das geht eine Weile so, beide Kinder folgen den Bewegungen des anderen, schauen sich an und lachen. Obwohl es um sie herum viel Gelächter gibt, bleiben Anna und Olle in ihr Spiel vertieft.“ (Kleinstkinder Themenheft 2/2022, S. 30). Es sind also der Nachahmungs- und der Spielantrieb, die das Spiel am Laufen halten, ohne dass die Kinder ihre eigene Person als Handelnde berücksichtigen. Aus dem Lachen und Sichansehen kann kein Ichbewusstsein erschlossen werden, weil das spontan im Spiel geschieht. Ein halbes Jahr später würden die beiden ein solches Spiel variieren.
Bei dieser Debatte wird deutlich, dass wir sehr unterschiedliche Ansichten über die frühe Krippenbetreuung haben. Doch genau diese Fragen treffen den Kern der Sache. Welche fachspezifischen Argumente ich habe, ist nachzulesen auf dieser Website.
Zur Partizipation in der Krippe hier noch ein Hinweis. Wenn Einjährigen ein Angebot gemacht wird, hat dieses Kind in dem Moment die volle Aufmerksamkeit der Fachkraft. Das ist etwas ganz Besonderes für ein Krippenkind und dann tut es das, was es kann und lässt sich anleiten. Daraus lernt es jedoch nichts für das spätere Demokratieverständnis.

Kornelia Schneider 02 April 2023, 18:20

Dieser Beitrag wirft bei mir viele Fragen auf. Ich wüsste gern, auf welches Alltagsverhalten von Kindern in Tageseinrichtungen er sich bezieht. Denn ich erfahre mehr über das Denken der Autorin als über konkrete Beispiele. Mein Fachwissen, das ich aus eigenen Forschungen, aus umfangreichen Recherchen englischsprachiger Fachliteratur zu Kleinkindforschung und aus der Auseinandersetzung mit Theorien beziehe, besagt: Die theoretisch verfassten Aussagen der Autorin stimmten nicht überein mit dem erforschten Verhalten von Kindern.
Gegenüber früheren Annahmen ist durch Forschung im Alltag von Kleinkindeinrichtungen dokumentiert, dass das Sozialverhalten von Babys und Kleinkindern sehr umfangreich und zum Teil ausgesprochen differenziert ist. Das ist z.B. nachzulesen und/oder anzuschauen im Film (mit Begleitheft) von Mária Vincze und Geneviève Appell (2009): Säuglinge und Kleinkinder untereinander, Pikler-Institut: Budapest oder im Buch von Wiebke Wüstenberg und Kornelia Schneider (2021): Ich - Du - Wir. Wie Kinder in den ersten drei Lebensjahren ihre Beziehungen miteinander gestalten. Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, wamiki:Berlin.
Ja, es stimmt: „Zum Demokratielernen und sozialen Verstehen in der Kita nutzen keine Bildungsprogramme. Die wesentliche Voraussetzung für dieses Lernen ist der wertschätzende Umgang mit den Kindern."
Dazu passt nicht, dass nur von Defiziten der Kinder die Rede ist.
So wie ich es verstehe, setzt die Autorin auf sichere Bindung, auf Reifung und auf die Erfüllung von Erwartungen der Erwachsenen an „regelkonforme Umgangsweisen". Ich vermisse Ergebnisse der Hirnforschung und der Säuglings- und Kleinkindforschung, die vom Konzept der „agency" oder des „forschenden Kindes" ausgehen und belegen, dass Kinder eben nicht nur auf Anregungen von außen reagieren, sondern von Geburt an eine aktive Rolle einnehmen,
Wie ließe sich z.B. kreuzmodale Wahrnehmung erklären, wenn die Kinder „verschiedene Dinge nicht gleichzeitig bedenken und wahrnehmen" könnten, „sondern nur nacheinander"?
Womit lässt sich die Idee begründen, dass Demokratieverständnis sich nicht in Kindertageseinrichtungen, wohl aber im Rahmen der Familie entwickeln könnte? Wie könnte die Erfahrung in der Familie zur Entwicklung eines Demokratieverständnisses beitragen, wenn es da gar keine Grundstrukturen für gleichberechtigte Beziehungen gibt?
Wieso setzt Selbstbestimmung „voraus, dass das Kind sein Handeln reflektieren und Situationen einschätzen kann“?
Wie kann zugleich zutreffen, dass Kinder „ganz auf sich selbst bezogen“ wären, jedoch noch nicht über Voraussetzungen verfügen, die ermöglichen, dass „äußere Vorkommnisse auf die eigene Person bezogen werden können“?
Ich würde mich freuen, eine Antwort auf diese Fragen zu bekommen.
Kornelia Schneider

Angelika Mauel 27 Mai 2022, 18:48

Liebe Frau Butzmann,

es fällt an der Basis schon auf, wie bestimmte Modethemen uns durch Broschüren oder in Fachzeitschriften offen als Werbung oder versteckt als Fachartikel passend zu den Interessen der Anzeigenkunden nahegebracht werden sollen. "Partizipation" ist ein Modethema - und es ist zum Teil absurd, was durch Fachschulen oder Bücher vermittelt wird. Kleinkinder sollen sich einerseits ihre Windel zwischen drei verschiedenen Modellen auswählen können - aber dass der Wille jedes Kindes respektiert wird, wenn es nach der offiziell abgeschlossenen "Eingewöhnung" nicht in seiner Gruppe bleiben will, ist im System nicht vorgesehen. Von "Schulreife" ist noch die Rede. Der Begriff "Kindergartenreife" taucht in der Erzieherausbildung nicht auf und ich vermute, der Begriff "Krippenreife" wurde - wenn überhaupt - kaum benutzt.

Erzieherinnen sollen nach einem Fachbuch von Herder beispielsweise den Schlaf eines Kindes beobachten und protokollieren, um einen günstigen Weckzeitpunkt zu ermitteln, wenn Eltern wünschen, dass ihr Kind aus dem Mittagsschlaf geweckt wird... Schlafentzug ist in totalitären Staaten eine von vielen Foltermethoden. Und weder Eltern noch Erzieherinnen sollen eine Scheu haben, ein Kind einfach zu wecken? Tiere würden ihre Jungen nur im Notfall nicht ausschlafen lassen. Dass der von Erzieherinnen zu leistende "Service" so weit gehen soll, dass wir ein Kind Ewecken, damit es seine Eltern nachts nicht quietschfidel vom Schlafen abhält, zeigt, wie wenig die Rechte von Kleinkindern wirklich zählen.

Danke für Ihren Fachartikel, der mein Interesse an Ihrem Buch geweckt hat.

Freundliche Grüße
Angelika Mauel

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