
Wie Kinder in unterschiedlichen Kulturen sich selbst und ihre Familie zeichnen
Zeichnen und Malen zählen zu den beliebtesten Ausdrucksformen von Kindern in der frühen Kindheit. Wir nehmen die Bilder als Ausdruck und Mitteilung kindlicher Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gefühle wahr. Doch das ist nicht ganz leicht. Oft stellt sich die Frage: Was hat das Kind dargestellt? Und: Was bedeutet das? Denn vor allem sind die Zeichnungen junger Kinder nur selten Abbilder der sichtbaren Welt. Mitunter erscheinen sie wie verschlüsselte Botschaften. Ariane Gernhardt reflektiert kritisch die noch vielfach vorherrschenden, vom Leben in multikulturellen Gesellschaften überholten Deutungsmuster und Bewertungen, die sich üblicherweise allein an der Lebenswirklichkeit und ihrer Darstellung bei Kindern aus westlichen Kulturen orientieren und zudem wesentliche Kontextinformationen vernachlässigen.
Die fünfjährige Louisa sitzt konzentriert vor einem weißen Blatt Papier und zeichnet sich selbst mit einem Bleistift. Sie setzt den Stift in der Mitte des Blattes an und zeichnet zuerst Beine und Füße. Dabei sagt sie: „Ich bin schon soooo groß“. Anschließend malt sie einen Strich über die Beine und darüber eine runde Halbkugel. Louisa kommentiert: „Das ist mein Bauch und da ist der Bauchnabel“. Als sie beim Kopf angekommen ist, zeichnet sie zwei Augen, eine Nase und zuletzt einen lächelnden Mund.
Nach fünf Minuten wird Louisa erneut darum gebeten, sich selbst zu zeichnen. Diesmal stehen ihr anstelle eines Bleistifts sechs Buntstifte zur Verfügung.
Ein Vergleich der beiden Selbstzeichnungen lässt zweierlei erkennen: Zum einen sind sich die Zeichnungen recht ähnlich. Louisas Selbstbild besteht aus den gleichen Körperteilen, und sie zeichnet diese in beiden Bildern in der gleichen Reihenfolge, Form und Ausrichtung. Auch die Größe ist sehr ähnlich, beide Selbstfiguren reichen von der unteren Kante des Blattes bis ins obere Drittel. Zum anderen werden einige Unterschiede zwischen den Zeichnungen deutlich: Mit den Buntstiften malt Louisa die Körperteile aus, sie fügt Haare und Fingernägel hinzu, zeichnet sich sogar einen Fingerring und bettet sich in eine Landschaft ein.
Ein weiteres Beispiel: Janna, ebenfalls fünf Jahre alt und aus einer städtischen Mittelschichtfamilie stammend, hat, wie Louisa, zuerst eine Selbstzeichnung mit Bleistift angefertigt und fünf Minuten später eine weitere mit den gleichen sechs Buntstiften.
Ganz ähnlich wie Louisa zeichnet auch Janna in der Bleistiftzeichnung lediglich die Kontur ihres Körpers, stellt sich lächelnd und groß dar, während sie in der Buntstiftzeichnung Details wie Haare und Schuhe hinzufügt, sowie einen Hosenbund andeutet. Ebenfalls wie Louisa stellt sich Janna in der Buntstiftzeichnung auf eine Wiese und zeichnet eine Sonne und den Himmel mit Wolken und Regen hinzu. Als sie die tieferen Tropfen malt, sagt sie: „Oh, es regnet, da brauche ich ja einen Regenschirm!“ und malt sich noch einen Regenschirm in die Hand.
Ein Vergleich der Selbstzeichnungen von Janna und Louisa lässt erkennen, dass beide Mädchen in ihren Zeichnungen jeweils das gleiche Grundschema für Figuren anwenden und die Proportionen und Größen ihrer Selbstfiguren weitgehend beibehalten. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass sich die Bleistift- und Buntstiftzeichnungen nicht vollkommen gleichen. Verallgemeinernd kann man sagen, dass sich sowohl die Zeichnungen verschiedener Kinder voneinander unterscheiden, als auch dass ein- und dasselbe Kind das gleiche Motiv auf unterschiedliche Weise zeichnen kann.
Wie aber kommt es dazu? Warum zeichnen Kinder das gleiche Motiv auf unterschiedliche Weise? Umfangreiche Forschungen zu diesem Thema zeigen: Dafür gibt es viele Gründe. In den vorangegangenen Zeichnungen von Janna und Louisa wurde bereits deutlich, dass das zur Verfügung stehende Zeichenmaterial Einfluss auf das Zeichnen hat. Aber auch die momentane Stimmung des Kindes, seine Motivation und die vorherige Aktivität des Kindes können Zeichnungen beeinflussen. So fanden die Psychologinnen Lynda Kapsch und Ann Kruger (2004) beispielsweise, dass Kinder, die unmittelbar vor dem Zeichnen bestimmte Bewegungserfahrungen beim Tanzen gemacht hatten, weniger detaillierte Selbstzeichnungen anfertigten als zuvor, dafür jedoch stärker versuchten, Rhythmik und Bewegung darzustellen. Schließlich hat auch die (momentane) Bedeutung des Motivs Einfluss auf die Zeichnung. So gibt es Studien, die zeigen, dass Kinder den Weihnachtsmann wenige Tage vor Weihnachten größer darstellen als noch einige Wochen zuvor oder danach (zum Beispiel Craddick, 1961). Ebenso zeichnen Kinder eine positiv beschriebene Person größer als eine weitere, die im Vorfeld negativ beschrieben wurde (Burkitt, Barrett & Davis, 2003, 2004).
Und die Kultur?
Nachdem nun deutlich wurde, dass die Zeichnungen eines Kindes von einer ganzen Reihe verschiedenster Faktoren beeinflusst werden, stellt sich die Frage, inwiefern sich darüber hinaus der kulturelle Hintergrund eines Kindes in den Zeichnungen widerspiegelt. Oder anders gefragt: Wenn schon Kinder aus demselben kulturellen Umfeld unterschiedlich zeichnen und wenn sogar dasselbe Kind innerhalb kürzester Zeit verschieden aussehende Zeichnungen anfertigt, wie können sich dann noch unterschiedliche kulturelle Erfahrungen in diesen Zeichnungen ausdrücken?
Doch zunächst noch ein paar Worte zum Thema Kultur. Unter dem Begriff Kultur werden im Alltagsverständnis vorwiegend kulturelle „Produkte“ zusammengefasst, wie beispielsweise Gedichte, Gemälde, Gebäude, Schmuck, Kleidung und Musik. In Kinderzeichnungen äußert sich dieser Aspekt von Kultur beispielsweise durch das Hinzufügen von Accessoires wie Halsketten, Ohrringen, Kleidung, Schuhe, Kopfbedeckungen oder anderen Gegenständen.
Darüber hinaus gibt es aber noch einen weiteren, symbolischen, eher unsichtbaren und zum Teil unbewussten Aspekt von Kultur, der im Alltag und im alltäglichen Leben Ausdruck findet. Hierzu gehören zum einen kulturelle Praktiken, wie beispielsweise Rituale, Erziehungspraktiken und Kommunikationsmuster, und zum anderen geteilte Bedeutungssysteme, wie zum Beispiel Wertvorstellungen und Normen (Borke, Döge & Kärtner, 2011; Keller, 2011). Diese täglich gelebte Alltagskultur ist es, die wesentlich dazu beiträgt, wie Menschen sich selbst wahrnehmen und ihre Beziehung zu anderen Menschen gestalten, wie sie ihre Kinder erziehen und welche Sozialisationserfahrungen Kinder machen. Wer also teilt eine Kultur? Zu einer kulturellen Gruppe gehören alle Menschen, die ähnliche Vorstellungen vom Leben haben, die sich nach den gleichen Werten und Normen ausrichten und sich ähnlich verhalten. Vereinfacht gesagt sind es solche Menschen, die sich in ähnlichen Lebensumständen befinden (v. a. in Bezug auf formale Bildung, ökonomische Situation und Wohnumgebung [Stadt oder Land]). Das heißt auch, nicht die Nationalstaatsgrenzen sind bestimmend für die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe. Wie wirken sich Unterschiede in den kulturellen Kontexten auf das Zeichnen und Malen junger Kinder aus? Inwiefern spiegeln sich kulturelle Unterschiede auch in ihren Selbst- und Familienzeichnungen wider?
In unseren Untersuchungen haben wir in den letzten Jahren weit über tausend Selbst- und Familienzeichnungen von Kindergartenkindern aus verschiedenen Regionen der Welt gesammelt und nach möglichst objektiven Kriterien miteinander verglichen. Dabei war es uns zum einen wichtig, möglichst solche Merkmale zu untersuchen, bei deren Beurteilung verschiedene Betrachter übereinstimmen, und zum anderen, die beobachteten Unterschiede in den Zeichnungen von Kindern verschiedener kultureller Gruppen nicht bewertend zu interpretieren: Wir sehen darin vielmehr „Antworten“ auf unterschiedliche Lebensbedingungen. Insofern kann es nicht ein „besser“ oder „schlechter“ geben, wenn es um die Interpretation kindlicher Zeichnungen geht.
In den folgenden Abschnitten sollen nun einzelne Merkmale kindlicher Selbstzeichnungen (zum Beispiel die Figurgröße, der emotionaler Ausdruck) zwischen verschiedenen Kulturen verglichen werden. Da es ein recht weit verbreitetes Vorgehen ist, Zeichnungen anhand einer Reihe von Einzelmerkmalen zu beurteilen, sollen die Ergebnisse der kulturvergleichenden Betrachtung Deutungen derselben Merkmale gegenübergestellt werden, wie sie in weit verbreiteten Publikationen zur Kinderzeichnung zu finden sind.
„Ich bin schon sooo groß!“
Ein auffälliges und vielfach untersuchtes Merkmal kindlicher Selbstdarstellungen ist die Größe der gezeichneten Figur. Häufig wird sie mit der Selbsteinschätzung des Kindes in Verbindung gebracht. Evi Crotti und Alberto Magni (1999) schreiben beispielsweise Folgendes zur Größe einer Selbstzeichnung:
„Kleine Figur. Sie bedeutet einen niedrigen Grad kindlicher Selbstwahrnehmung. Das Kind fühlt sich „klein“, neigt dazu, sich selbst zu unterschätzen und nicht an seine eigenen Kräfte zu glauben. Es fürchtet sich davor, mit anderen Kindern und überhaupt mit seiner gesamten Umgebung konfrontiert zu werden. Eine kleine Figur ist ein Zeichen von Schüchternheit.
Große Figur. Darunter ist eine menschliche Gestalt zu verstehen, die die Bildmitte horizontal überragt. Sie drückt Selbstsicherheit und -vertrauen aus, Extrovertiertheit und Überschwänglichkeit, die im Extremfall in Zudringlichkeit umschlägt.“ (S. 80–81).
Solche und ähnliche Deutungen zur Figurgröße sind keine Seltenheit und es ist daher nicht verwunderlich, wenn Erzieherinnen und Erzieher die Kinder gelegentlich auffordern, sich selbst etwas größer zu zeichnen oder den zur Verfügung stehenden Raum „besser“ auszufüllen. Zu der Bekanntheit dieser Interpretation hat insbesondere Elizabeth Koppitz (1972) beigetragen, die beschrieb, dass die Darstellung „winziger Gestalten“ (S. 86) auf verschüchterte, in sich gekehrte oder bedrückte Kinder hinweise. Als „winzig klein“ bezeichnete Koppitz Figurgrößen bis zu 7,5 cm (3 inches).
Im klinischen und diagnostischen Bereich können solche Hinweise sicherlich wichtige und zusätzliche Informationen liefern – zumindest wenn die Kinder unter ähnlichen Lebensbedingungen aufwachsen wie jene, deren Zeichnungen als Grundlage für die Entwicklung eines solchen Interpretationsschemas dienten. Hierzu wurden fast ausschließlich die Zeichnungen von Kindern aus städtischen Gebieten des europäischen und angloamerikanischen Raumes herangezogen. Aber kann eine solche Deutung auch für Kinder aus anderen kulturellen Kontexten angemessen sein?
Die Erkenntnisse aus kulturvergleichenden Studien zeigen, dass eine solche Interpretation keinesfalls für die Kinder anderer Kulturen gleichermaßen gültig sein kann: Beispielsweise zeichnen sich Kinder aus kamerunischen Nso-Bauernfamilien im Durchschnitt 7,4 cm groß. Nach Koppitz zeichnet sich somit die Mehrzahl dieser Kinder „winzig klein“, entsprechend mit Verdacht auf emotionale Probleme. Ebenso sind die Selbstzeichnungen ländlich lebender türkischer Kinder im Durchschnitt um mehr als ein Drittel kleiner als die gleichaltriger Kinder aus deutschen städtischen Mittelschichtfamilien. Kinder mit türkischem Migrationshintergund, die in Deutschland leben, sowie Kinder aus türkischen städtischen Mittelschichtfamilien zeichnen sich ebenfalls kleiner als Kinder aus deutschen Mittelschichtfamilien, wenn auch der Unterschied geringer ausfällt. Übrigens spielt es keine Rolle, ob die Kinder aufgefordert werden, sich selbst zu zeichnen oder Menschen in freien Zeichnungen betrachtet werden: Sowohl in freien Zeichnungen als auch in den Auftragszeichnungen zeichneten Kinder mit türkischen Migrationshintergrund Menschfiguren kleiner als deutsche Mittelschichtkinder.
Ein Vergleich der Selbstzeichnungen von Kindern, die in verschiedenen kulturellen Kontexten aufwachsen, zeigt also, dass sich die Figurgröße nicht nur individuell von Kind zu Kind, sondern auch von Kultur zu Kultur beträchtlich unterscheidet (Gernhardt, Rübeling, Keller, im Druck).
Warum aber zeichnen sich Kinder aus verschiedenen Kulturen im Durchschnitt unterschiedlich groß? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, noch einmal die verschiedenen Vorstellungen über die Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft sowie deren Auswirkungen auf die Erziehung und Sozialisation der Kinder zu betrachten. In westlichen Mittelschichtfamilien, in denen Familienmitglieder sich selbst und andere eher als unabhängige Individuen betrachten und weniger als verbunden mit ihrer Familie, braucht jedes Familienmitglied ein großes Ausmaß an persönlichem Raum und die Möglichkeit, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen. Dagegen betrachten sich Familien in ländlichen, bäuerlichen Gegenden stärker als soziale Einheit, in der jedes Familienmitglied zum ökonomischen und sozialen Funktionieren der Familie beiträgt. Individualität, eigene Interessen und Vorlieben werden in diesem kulturellen Kontext stärker zurückgestellt. Das bedeutet, relativ große Selbstdarstellungen sind vor allem dort zu finden, wo das Individuum besonders wertgeschätzt wird; vergleichsweise kleinere Selbstdarstellungen finden sich dort, wo die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Für die Deutung von Selbstzeichnungen bedeutet das: Was „normal“ ist, kann nur vor dem kulturellen Hintergrund bewertet werden.
Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht?
Gesichter haben in westlichen, mittelständigen Kontexten mit einer überwiegenden kulturellen Orientierung an psychologischer Autonomie einen besonderen Stellenwert. Sie werden von Geburt an als Medium zum sozialen Austausch verwendet: Die Förderung des Gesichtskontakts ermöglicht es bereits Säuglingen, die Kommunikation aktiv zu steuern: sie können Blickkontakt aktiv vermeiden, Blickkontakt suchen oder aufrechterhalten; sie lernen, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrer Mimik und der des Gegenübers gibt: Wenn ich lächele, lächelt mein Gegenüber zurück; wenn ich weine, erhalte ich einen besorgen Blick, wenn ich Laute von mir gebe, besteht die Antwort darauf oft ebenfalls in Lautäußerungen. Auf diese Weise lernen schon Babys, unabhängige und verursachende Handelnde in der Kommunikation zu sein. Auch emotionale Wärme wird in diesem kulturellen Kontext häufig über das Gesicht ausgedrückt, indem Babys zum Beispiel häufig angelächelt werden. Insgesamt ist das Erzeugen und Aufrechterhalten positiver Gefühle sogar ein zentrales Erziehungsziel: Als größten Wunsch für ihre Kinder nennen viele Eltern, dass es glücklich ist.
Entsprechend der herausragenden Bedeutung von Gesicht, Blickkontakt und positiver Gefühle ist es nicht verwunderlich, dass Kinder beim Zeichnen schon früh dazu angehalten werden, ihren Figuren ein Gesicht zu geben. So beginnt auch der wohl bekannteste Reim zum Erlernen von Menschzeichnungen mit: „Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht“. Was bedeutet es aber, wenn Kinder nur wenige oder gar keine Gesichtsdetails zeichnen? Wenn sie nicht den erwarteten lachenden Mund zeichnen?
Es gibt eine breite Übereinstimmung darin, dass der Gesichtsausdruck Hinweis auf den emotionalen Zustandes des zeichnenden Kindes liefert. So wird das Zeichnen von Zähnen und offenen Mündern an vertrauten Personen häufig als Wut oder Angst interpretiert, das Auslassen von Gesichtsdetails als Kommunikations- oder Gefühlsdefizit (zum Beispiel Crotti & Magni, 1999; Koppitz, 1972). Diese Interpretationen können vor dem Hintergrund der herausragenden Bedeutung des Gesichts und positiver Emotionen in einem westlichen, mittelständigen Kontext sicherlich gerechtfertigt sein, und die Betrachtung des Gesichtsausdrucks stellt in der therapeutischen und diagnostischen Arbeit mit jungen Kindern ein ergänzendes und sprachfreies Medium dar. Welche Bedeutung haben jedoch das Gesicht, die Kommunikation über das Gesicht und Glück für Familien in anderen kulturellen Kontexten? Welche Rolle spielt der intensive Blickkontakt zwischen einem Elternteil und einem Kind in Familien mit mehr als fünf Kindern? Was bedeutet persönliches Glück eines einzelnen Kindes in Familien, in denen jedes Familienmitglied für das Funktionieren der Familie unabkömmlich ist? Solche Überlegungen sind wichtig, wenn dem Betrachter an einer angemessenen Interpretation der dargestellten Gesichtsmerkmale gelegen ist. Wahrscheinlich wirken die Zeichnungen in Abbildung 3.2.6 auf den westlich geprägten Betrachter mit seiner entsprechenden kulturellen Brille zunächst erschreckend, sie sind jedoch nur vor dem kulturellen Hintergrund dieser Kinder zu verstehen.
In Kulturen, die vornehmlich an hierarchischer Verbundenheit orientiert sind, in denen Kommunikation und Wärme weniger über das Gesicht, sondern stärker über Körperkontakt und Körpersignale vermittelt werden, in denen es als respektlos gilt, Erwachsenen direkt ins Gesicht zu schauen, und in denen nicht das persönliche Glück, sondern die Gesundheit von Kindern und deren Eingliederung in die Gemeinschaft im Vordergrund steht, in diesen Kulturen werden emotionale Neutralität und die Kontrolle von Emotionen als wichtige kindliche Kompetenzen gefördert, und es ist nicht verwunderlich, dass Kinder in ihren Selbstzeichnungen Gesichtsdetails weglassen und neutrale Gesichtsausdrücke bevorzugen.
Mama links – Papa rechts? Wie Kinder ihre Familie anordnen
Die in der Überschrift aufgeworfene Frage liefert bereits einen groben Hinweis darauf, was wir von einer Familienzeichnung erwarten: Wir sind es von „unseren“ Kindern gewohnt, dass sie ihre Familienmitglieder in einer Reihe zeichnen und auf eine gemeinsame Grundlinie oder auf die untere Kante des Zeichenblattes „stellen“. Nur dann können wir auch die Frage nach der Nachbarschaft von Figuren stellen. Einige Autoren bringen demgemäß eine solche lineare Anordnung der Familienmitglieder beispielweise mit einer sicheren Bindung des Kindes an seine Bezugspersonen in Zusammenhang (Pianta, Longmaid & Ferguson, 1999). Scheinbar spiegelt diese Anordnung „unser“ Konzept von Familie am besten wider und Abweichungen davon werfen Fragen zur „Normalität“ innerfamiliärer Beziehungen auf. Dagegen lassen sich in anderen kulturellen Kontexten vielfach Darstellungsformen beobachten, die nur von wenigen Kindern westlicher Mittelschichtfamilien gewählt werden.
In einer Abbildung ist, neben der uns vertrauten Anordnung auf der Blattkante, die nichtlineare Aufreihung einer Familie sowie eine verstreute Anordnung der Familienmitglieder ohne gemeinsame Ausrichtung von kamerunischen Nso-Kindern dargestellt. Beide Darstellungsformen kommen in diesem kulturellen Kontext häufig vor, sind jedoch nicht auf diesen beschränkt: Auch viele türkische Kinder, die in ländlichen Regionen der Türkei leben, ordnen ihre Familienmitglieder verstreut auf dem Zeichenpapier an, während die Familienanordnung türkischer Kinder aus städtischen Gebieten wie auch die von Kindern mit türkischem Migrationshintergrund stark denen der deutschen Mittelschichtkinder ähnelt.
Welche Bedeutungen haben nun diese unterschiedlichen Formen der Familienanordnungen? Sicherlich deuten sie nicht darauf hin, dass eine Vielzahl türkischer und kamerunischer Kinder „unsicher“ oder „vermeidend“ gebunden sind – zumal das uns vertraute Konzept „Bindung“ ausschließlich an den Vorstellungen eines kulturellen Kontextes orientiert ist (Otto & Keller, 2012). Wahrscheinlicher ist es, dass die verschiedenartigen Anordnungen der Familienmitglieder auf dem Zeichenpapier die unterschiedliche Vertrautheit mit rechteckigem Zeichenpapier und weiterem Bildmaterial zum Beispiel in Büchern oder im Fernsehen widerspiegeln. Haben Kinder im Alltag wenig Erfahrung mit dem Zeichnen oder Malen auf rechteckigem Zeichenpapier, nutzen sie vergleichsweise seltener die Blattkanten als Orientierungshilfe bei der Anordnung von Figuren: Das auf dem Tisch liegende Zeichenblatt wird nicht zwangsläufig als ein zweidimensionaler Bezugsrahmen aufgefasst, der vorgibt, wo oben und unten, wo rechts und links ist.
Der kulturelle Kontext scheint sich demnach auf unterschiedliche Weise auf die Selbst- und Familienzeichnungen junger Kinder auszuwirken: Zum einen kommt in den Zeichnungen das Konzept zum Ausdruck, das Kinder von sich selbst und ihrer Familie im Laufe ihrer Kindheit entwickeln, zum anderen beeinflussen aber auch ihre Erfahrungen mit dem Zeichnen und Malen ihre Darstellungen.
Mama ist kleiner als Papa, aber ich bin größer als mein Bruder
Die unterschiedliche Figurgröße einzelner Familienmitglieder wird mitunter – unabhängig von ihrer tatsächlichen Größe – als Ausdruck der familiären Hierarchie gedeutet. Die am größten gezeichnete Figur, häufig der Vater, wäre demnach das Oberhaupt der Familie, die kleinste, zum Beispiel ein jüngeres Geschwister, wäre am weitesten untergeordnet (zum Beispiel DiLeo, 1989). In unseren Untersuchungen konnten wir dagegen folgendes beobachten: Viele Kinder aus westlichen Mittelschichtfamilien, die ihren Zeichenprozess kommentierten, machten Aussagen wie: „Mein Papa ist größer als meine Mama, deswegen muss ich weiter oben anfangen zu zeichnen“ oder „ich bin schon viel größer als mein Bruder“. Die Kinder schienen sehr bemüht zu sein, die tatsächlichen Größenunterschiede in ihren Darstellungen abzubilden. Im Vergleich dazu verzichteten die kamerunischen Kinder weitgehend darauf, die Figuren unterschiedlich groß zu zeichnen. Im Sinne der obigen Interpretation ist dieses Ergebnis sehr verwunderlich, denn während westliche, mittelständische Familien einen sehr partnerschaftlichen Erziehungsstil anstreben und Kinder als gleichberechtigte Interaktionspartner behandeln, ist die Hierarchie in den kamerunischen Bauernfamilien sehr stark ausgeprägt. Man hätte also eine deutlich größere Darstellung des Vaters oder beider Elternteile in den Zeichnungen der kamerunischen Kinder erwartet. Wir dagegen vermuten, dass die kulturellen Unterschiede in der Größendarstellung die unterschiedlichen Auffassungen von „Familie“ widerspiegeln: Während die westlichen Kinder aus Mittelschichtfamilien die eigene Familie als Gruppe (unterscheidbarer) Individuen wahrnehmen, fassen kamerunische Nso-Kinder ihre Familie eher als eine Gemeinschaft auf, in der individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern nicht im Vordergrund stehen.
Um einen Hinweis darauf zu erhalten, welche Bedeutungen dargestellte Größenunterschiede nun wirklich haben, also ob ein Kind lediglich versucht, auf diese Weise verschiedene Familienmitglieder kenntlich zu machen oder ob es eine andere Ursache dafür gibt, lohnt es sich, den Zeichenprozess des Kindes zu verfolgen, die Kommentare der Kinder zu beachten und gegebenenfalls nachzufragen.
„Ich bin der dicke Kreis“ – Was können uns Kritzelbilder erzählen?
Nachdem wir nun einiges zu kulturellen Unterschieden in den Selbst- und Familiendarstellungen von Kindergartenkindern erfahren haben, soll in den beiden letzten Abschnitten der Altersbereich etwas erweitert werden: Zunächst wird die Frage betrachtet, ob sich kulturelle Unterschiede in Kinderzeichnungen auch schon bei jüngeren Kindern, die noch nicht figürlich zeichnen, bemerkbar machen. Im Anschluss soll das Kindesalter verlassen und darauf eingegangen werden, wie Mütter aus unterschiedlichen Kulturen sich selbst und ihre Familie zeichnen.
Schon junge Kinder unter vier Jahren geben ihren „nicht-figürlichen“ Kritzelzeichnungen häufig einen Sinn. Ein Kreis kann zum Beispiel ein ‚Auto‘, ein ‚Haus‘ oder ‚ich selbst‘ symbolisieren. Leider ist es dennoch für den Betrachter meist nicht ersichtlich, was die Kritzel darstellen sollen. Vielmehr erwecken sie den Eindruck einer mehr oder weniger zufälligen, bedeutungslosen Anordnung von Formen und Linien.
In unseren Untersuchungen haben wir dennoch auch schon sehr junge Kinder aufgefordert, sich selbst und ihre Familie zu zeichnen. Die Ergebnisse sind verblüffend: Bei den Kindern der Nso-Bauern, die in Großfamilien aufwachsen, unterscheiden sich die Familien- und Selbstzeichnungen stärker als bei Kindern aus deutschen Kleinfamilien: Die Nso-Kinder verwenden im Familienbild eine große Anzahl verschiedenartiger Formelemente und füllen damit im Vergleich zum Selbstbild eine größere Bildfläche. Anders die Kinder aus deutschen Kleinfamilien: Sie verwenden vergleichsweise weniger Formelemente in der Familienzeichnung und beanspruchen für das Selbstbildnis fast ebensoviel Fläche wie für die Darstellung ihrer Familie. Dies deutet darauf hin, dass junge Kinder, die noch nicht einmal ansatzweise eine Mensch-Figur zeichnen können, bereits mit einfachen Mitteln unterschiedliche, kulturell geprägte, Erfahrungen von „Familie“ und „Selbst“ zum Ausdruck bringen. In diesem Fall könnte die größere Formenvielfalt der kamerunischen Nso-Familienzeichnungen die Wahrnehmung wiedergeben, dass viele verschiedene Personen zur (Groß-)Familie gehören, während die geringere Formenvielfalt der deutschen Kinder zum Ausdruck bringt, dass nur wenige (verschiedenartige) Personen zur Familie zählen. Dass sich die deutschen Kinder im Kritzelbild fast ebenso groß malen wie ihre Familien, die kamerunischen Kinder dagegen beträchtlich kleiner, könnte ebenfalls in der Bedeutung des Selbst in der eigenen Familie begründet sein. Etwas flapsig formuliert könnte man sagen: Steht das Kind im Mittelpunkt, beansprucht es auch in der Zeichnung viel Raum; steht die Familie im Mittelpunkt, beansprucht diese in der Zeichnung mehr Raum.
Und nach dem Kindes- und Jugendalter?
Im Vergleich zu den Zeichnungen junger Kinder werden die bildnerischen Darstellungen von Erwachsenen von einer Vielzahl an Faktoren „überlagert“. Während Kinder häufig „einfach drauf los zeichnen“, machen sich viele Erwachsene (und auch schon ältere Kinder) zunächst Gedanken darüber, wie sie etwas darstellen möchten, wo etwas hingezeichnet werden soll oder sie haben Bedenken, nicht gut zeichnen zu können. Der Anspruch, möglichst realistisch zu zeichnen, hemmt mit zunehmendem Alter den Wunsch, sich zeichnerisch auszudrücken. Es ist daher nicht überraschend, dass viele Mütter nur wenig begeistert davon waren, als wir sie aufforderten, eine Zeichnung von sich selbst und eine von ihrer Familie anzufertigen.
Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren, die auf die Zeichnungen Erwachsener Einfluss nehmen, so zum Beispiel Schulbildung, Alphabetisierung, Bildangebote in der Umgebung, Erfahrungen im Zeichnen sowie traditionelle und zeitgenössische Kunstströmungen, um nur einige zu nennen. Und trotzdem ist es interessant, ob und in welchem Umfang sich die Zeichnungen von Müttern und die ihrer Kinder ähneln und ob trotz des Bemühens vieler Erwachsener, möglichst realistisch zu zeichnen, kulturelle Unterschiede sichtbar werden. Was würden wir also erwarten? Zum einen würden wir annehmen, dass wir in den Mütterzeichnungen dieselben Merkmalsunterschiede finden wie in den Kinderzeichnungen. Zum anderen würden wir annehmen, dass sich die Zeichnungen deutscher Mütter aus der Mittelschicht und ihrer Kinder stärker voneinander unterscheiden als die von kamerunischen Müttern und ihren Kindern, da die Orientierung an psychologischer Autonomie und den damit einhergehenden individualisierten Lebensstilen mehr Freiraum lässt und Individualität und Abgrenzung von anderen mehr erwünscht ist.
Tatsächlich finden wir in den Mütterzeichnungen dieselben Merkmalsunterschiede wie in den Kinderzeichnungen: Die deutschen Mütter zeichnen sich größer und mit mehr Gesichtsdetails, zeichnen sich lächelnd und arrangieren Familienmitglieder häufiger auf einer gleichen Grundlinie als die kamerunischen Mütter. Zudem gibt es, wie erwartet, weniger Übereinstimmungen zwischen den Mütter- und Kinderzeichnungen in der deutschen Stichprobe als in der kamerunischen Stichprobe.
Fazit
Bei der Deutung von Kinderzeichnungen wird auch heute oftmals nicht berücksichtigt, dass Kinder, die in unterschiedlichen Kulturen aufwachsen, sich in ihrem Selbst-Erleben und in der Beziehung zu anderen unterscheiden, und vor allen Dingen, dass diese Unterschiede sich in den kindlichen Zeichnungen widerspiegeln. Ob sich Kinder beispielsweise eher groß oder klein zeichnen, ob sie eher Kopf- oder Körperdetails betonen oder ob sie ihre Figuren lachend oder neutral darstellen, hängt zum großen Teil davon ab, in welchem kulturellen Kontext sie aufwachsen. Dies trifft für Kinder aus extrem unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu (wie der Vergleich deutscher Mittelschichtkinder und kamerunischer Bauernkinder zeigt), aber ebenso – wenn auch in geringerem Ausmaß – für Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten, für Kinder, die in unterschiedlichen Familienformen leben (zum Beispiel Groß- oder Kleinfamilie), für Kinder mit Migrationshintergrund und viele mehr. Solche Ergebnisse werden in vielen einschlägigen Büchern zur Entwicklung und Deutung von Kinderzeichnungen oft gar nicht oder nur verkürzt berücksichtigt. Häufig wird der kulturelle Hintergrund eines Kindes ausgeblendet. Die vorangegangenen Beispiele weisen dagegen in eine andere Richtung: Unterschiedliche kulturelle Kontexte vermitteln unter anderem unterschiedliche Auffassungen über die Stellung des Einzelnen in der familiären Gemeinschaft. Diese finden ihren Ausdruck in Zeichnungen der eigenen Person und der Familie, die zu den beliebtesten Motiven im Vorschulalter zählen. Ihre genaue Beachtung kann helfen, Fehldeutungen zu vermeiden.
Ariane Gernhardt, Osnabrück
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus der neuen Nummer der Zeitschrift Betrifft Kinder.