
Wie wichtig ist Bewegung in der Kindheit und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Aus- und Weiterbildung?
Dass Kinder sich bewegen, dass sie sich gerne bewegen und dass die Förderung der Bewegung eine Aufgabe von pädagogischen Fachkräften in Einrichtungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern ist, ist bekannt.
Bekannt ist jedoch nicht, in welchem Maße diese Erkenntnis in der frühpädagogischen Praxis umgesetzt wird. Können ErzieherInnen diese Aufgabe erfüllen? Sind die vorhandenen personalen Ressourcen ausreichend, um dem in nationalen und internationalen sowie interdisziplinären Fachdiskussionen anerkannt hohen Stellenwert von Bewegungsförderung zu entsprechen?
Diesen Fragen geht – neben anderen - das Forschungsprojekt Bewegung in der Kindheit (BiK) nach. Hochschulen und Universitäten haben sich zu einem Verbund zusammengeschlossen und forschen - in Teilprojekten - ob und wie die derzeitigen Professionalisierungs- und Akademisierungsprozesse frühpädagogischer Fachkräfte diese Erkenntnisse berücksichtigen.
Inzwischen liegen erste Ergebnisse einer Online-Befragung von frühpädagogischen Fachkräften, Lehrenden an Fachschulen für Sozialpädagogik und an (Fach-)Hochschulen mit einem frühpädagogischen Studiengang vor.
Im folgenden Interview erläutert Prof. Dr. Wolfgang Beudels diese Ergebnisse.
Kerstin Pack:
Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen sind von grundlegender Bedeutung für die kindliche Entwicklung. Sie suchen nach dem „adäquaten Niederschlag“ dieser wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnis sowohl in der Praxis von frühpädagogischen Fachkräften, als auch in den unterschiedlichen Ausbildungsformaten. Die ersten Ergebnisse liegen vor. Gab es aus Ihrer Sicht Überraschungen?
Wolfgang Beudels:
Als Wissenschaftler darf man ja eigentlich nicht überrascht sein, sondern man formuliert Hypothesen, also Erwartungen, dann erhebt man Daten, die kühl und sachlich analysiert werden. Die Auswertungen zeigen nun in der Tat mehr oder weniger erwartbare, zum Teil statistisch signifikante Zusammenhänge bzw. Befunde. Grundsätzlich können wir festhalten, dass der Bildungsbereich Bewegung in der Kita-Praxis, aber auch in der Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte, eine große Rolle spielt. Wir haben die Orientierungs- und Bildungspläne nach verschiedenen Gesichtspunkten analysiert und daraus – wie auch aus der nationalen und internationalen Literatur - Bedeutungsdimensionen von Bewegung ableiten können: Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung, der Gesundheitsförderung und des Lernens, und Bewegung als Lerngegenstand. Ein Befund ist, dass die mediale Dimension von Bewegung wohl in der Kita-Praxis eine recht große Rolle spielt, und da vor allen Dingen „Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung“. Was allerdings pädagogische Fachkräfte unter Entwicklungsförderung, Persönlichkeit, Gesundheit verstehen, konnten wir dabei nicht herausfiltern. Aber was wir sagen können: Bewegung als Lerngegenstand spielt gegenüber den anderen Bedeutungsdimensionen eine geringe Rolle.
Kerstin Pack:
Demnach hat das klassische Turnen, die Turnbeutel in der Kita und Sprüche wie: “Wir gehen mit den Kindern zum Sport und lernen einen Purzelbaum!“ ausgedient?
Wolfgang Beudels:
Nicht unbedingt, aber „Erziehung durch Bewegung“ sollte „Erziehung zur Bewegung“ ablösen. Es ist dann natürlich die Frage, ob basale motorische Fähigkeiten und Fertigkeiten noch im erforderlichen Maße entwickelt werden.
Dennoch muss betont werden, dass Bewegung eben ein hervorragendes kindgemäßes Medium ist bzw. sein kann, um Bildungs- und Entwicklungsprozesse nachhaltig zu unterstützen und zu erleichtern. Bewegung ist ein gutes Mittel, um die Phänomene der Welt zu entdecken, Wissen zu erwerben, Sprache zu fördern usw.
Kerstin Pack
Welche Erkenntnisse werden in die Aus-/Fort-und Weiterbildung der frühpädagogischen Fachkräfte einfließen?
Wolfgang Beudels:
Zunächst einmal müssen wir dafür Sorge tragen, dass alle Dimensionen von Bewegung auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung berücksichtigt werden, damit diese sich auch in der Praxis niederschlagen. Wir haben feststellen können, dass in der fachschulischen Ausbildung der Bildungsbereich Bewegung sehr unterschiedlich – qualitativ wie quantitativ – vermittelt wird.
Wir sehen eine sehr unterschiedliche Gewichtung des Themas auch von Hochschule zu Hochschule, wobei es in der Regel mit nur zwei Semesterwochenstunden, d.h. eine Veranstaltung im gesamten Studium, eher unterrepräsentiert ist.
Kerstin Pack:
Welche Kompetenzen sollte eine Erzieherin/ein Erzieher auf jeden Fall besitzen, um Bewegung im Kindesalter zu fördern? Ich erlebe bei den ErzieherInnen häufig eine ablehnende Haltung zur sportlichen Aktivität. Schaut man genauer hin, steckt häufig eine negative Erfahrung im Rahmen des Schulsports dahinter,
Z.B. Verletzungen durch das typische Bockspringen….
Wolfgang Beudels:
Sicher spielt die eigene Bewegungsbiografie eine große Rolle. Dazu gehört auch der Sportunterricht, und wenn angehende Erzieherinnen diesen eher nach dem Prinzip „Vormachen“ – „Nachmachen“ und „Überwinden“ unter dem Leistungsaspekt erlebt haben, dann vermittelt er weniger Freude an Bewegung. So wird dann auch wahrscheinlich die Bewegungserziehung in der Kita gestaltet, die dann die unterschiedlichen Dimensionen von Bewegung bzw. Bedeutungen kaum umfassend berücksichtigen kann. Also, eine Erzieherin muss um die Bedeutungsdimensionen wissen, sie muss innerhalb und außerhalb der Bewegungsstunde, auch im Außengelände und auf dem Flur für entsprechende Impulse und Angebote Sorge tragen und Situationen gestalten können. Sie sollte aber auch in der Lage sein, das Geschehen zu evaluieren. Beobachten und Dokumentieren sind ja zentrale Aufgaben. Auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegungsbiographie und mit der eigenen Einstellung zu Bewegung, Spiel und Sport halte ich für sehr wichtig.
Kerstin Pack:
Professionelles Handeln versus „ negative Erfahrungen“ - geht das? Kann man etwas Neues lernen, auch wenn man vorher negative Erfahrungen dazu gemacht hat?
Wolfgang Beudels:
Ich denke ja. Es gibt diesbezüglich schon eine Reihe attraktiver und sinnvoller Fort-und Weiterbildungsangebote, die z.B. niederschwellig Kontakt mit Grundformen von Bewegung aufnehmen lassen bzw. die Selbsterfahrung betonen. Man kann so Angst und Vorbehalte abbauen. Und das erlebe ich ja in Fortbildungen auch immer wieder „Ach das ist ja gar nicht so schlimm!“ „ Das hat ja sogar Spass gemacht!“
Kerstin Pack:
Welche Bedeutung hat die eigene sportliche Tätigkeit für ErzieherInnen??
Wolfgang Beudels:
Da sind wir uns noch nicht so ganz sicher. Macht eine Erzieherin - wenn man ein Extrembeispiel nimmt -, die aus dem Leistungssport kommt, beispielsweise aus dem Leistungs- oder Hochleistungssport – vielleicht Handball –macht sie eine bessere Bewegungserziehung? Oder hat sie nicht vielleicht ein Bewegungs- bzw. Sportverständnis, dass eher auf Leistung und Wettbewerb statt auf Bildung und Förderung ausgerichtet ist?
Andererseits gehört Selbsterfahrung natürlich dazu im Bewegungsbereich, um dann auch dem nachzuspüren, was Bewegung bewirkt, wie viel Freude Bewegung auch machen kann, und da wären wir bei einem weiteren Punkt: Bewegungsvorbild. Ein Lebensstil, in dem Bewegung eine große Rolle spielt und den ich öffentlich zeige, hat sicherlich auch Einfluss auf die Bewegungserziehung in der Kita. Sportlich, im Sinne von sportartenorientiert muss das nicht unbedingt sein, dies kann vielleicht helfen, kann aber auch u.U. einschränken. Aber Bewegung und die eigene körperliche Aktivität, die Bewegungsaktivität, Bewegungsfreude, denke ich, sind auch im Alltag unabdingbare Voraussetzungen für eine gute Bewegungserziehung in der Kita. Spätestens in der fachschulischen Ausbildung muss sich eine angehende Erzieherin damit auseinandersetzen.
Kerstin Pack:
Aber es ist bislang nicht wissenschaftlich nachzuweisen, dass…
Wolfgang Beudels:
... die eigene Bewegungsbiografie statistisch signifikant die Tätigkeit in der Kita positiv oder negativ beeinflusst. Das ist richtig.
Kerstin Pack:
Sind Zertifizierungen, wie z.B. „Bewegungskindergarten“ eine gute Lösung?
Wolfgang Beudels:
Der Bewegungskindergarten, oder das Zertifikat „Bewegungskindergarten“ ist zumindest schon mal ein guter Ansatz, wenn das auch wirklich ausgefüllt wird. Da kenn’ ich auch Beispiele, ohne jetzt ins Detail zu gehen, wo eine Zertifizierung vorgenommen worden ist, aber sich dadurch nicht großartig etwas geändert hat. Nur durch eine Zertifizierung entsteht nicht zwangsläufig ein Bewegungskindergarten. Manchmal werden ein paar neue Geräte und Materialien angeschafft, und schon ist man zertifizierter Bewegungskindergarten. Aber wenn Bewegung in das Konzept wirklich eingebaut wird und auch gelebt wird, d.h. dies zur Querschnittsaufgabe und zu einem wichtigen Bildungsbereich erhebt, dann kann ich das Bewegungskindergarten nennen und eine solche Zertifizierung macht Sinn. Damit sollte auch eine konsequente und kontinuierliche Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte im bewegungspädagogischen Bereich einhergehen und auch eine Veränderung der Rahmenbedingungen, (entsprechende Bewegungsgelegenheiten und Bewegungsräume) sichtbar sein. Ebenso ist eine regelmäßige Kontrolle wichtig.
Kerstin Pack:
Das ist ja so vorgesehen im Programm des Landessportbundes.
Wolfgang Beudels:
Ja, die Re-Zertifizierung oder Re-Akkreditierung. Was auch wichtig ist: Dass das Team innerlich wie äußerlich mitzieht, da ja auch die ErzieherInnen sozusagen mit zertifiziert werden. Da muss man sich im Team schon im Klaren sein, was das bedeutet.
Kerstin Pack:
„Feuer, Wasser, Luft!“ Kennen Sie das? In zahlreichen Einrichtungen werden - nach wie vor - nach diesem Prinzip die „Turnstunden“ angeleitet. Ist das förderlich?
Wolfgang Beudels:
Kann sein, muss aber nicht. Ich bin der Überzeugung, dass es sowohl angeleitete, wie auch freie Bewegungsaktivitäten geben muss, in der Sporthalle, im Turnraum oder draußen – es kommt drauf an. Es kann durchaus förderlich sein „Feuer, Wasser, Luft“ mit den Kindern zu spielen, wenn diese Spass daran haben und wenn ein solches Spiel ihren Bedürfnissen entgegen kommt, auch unter dem Aspekt, dass Kinder sich etwas großräumiger bewegen und damit körperlich beansprucht werden, solange dies kindgemäß und entwicklungsorientiert geschieht und nicht als Trainingsprogramm verstanden wird. Es gilt, eine gute Balance zwischen Struktur bzw. Anleitung und Offenheit bzw. sensibler Impulssetzung zu finden. Es wäre sicherlich fatal, wenn die Kinder sich auf einer Bewegungsbaustelle wunderbar bewegen und viel Freude daran haben, oder in andere Sachen vertieft sind, und ich sage dann: „Jetzt ist Schluss. Jetzt wird ‚Feuer, Wasser, Luft‘ gespielt und nichts anderes.“
Kerstin Pack:
Kann man da einen Proporz festlegen zwischen angeleiteter und offener Bewegungsförderung?
Wolfgang Beudels:
Das geht nicht. Besonders heikel wird es auch dann, wenn Kinder mit spezifischen Förderbedürfnissen dabei sind. Aber Ausgangspunkt sind immer Ressourcen, Stärken des Kindes, Wünsche und Bedürfnisse. Partizipation darf kein Schlagwort bleiben.
Kerstin Pack:
Quantitative Angaben zur Gruppengröße. Wäre das auch ein Limit? Eine Erzieherin, 25 Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahren in einem Turnraum in der Kita. Da läuft’s doch dann nur mit Struktur und Anleitung.
Wolfgang Beudels:
Es ist überhaupt die Frage, ob es sinnvoll ist mit 25 Kindern in so einen kleinen Raum zu gehen. Je nachdem, welches Thema aktuell ist kann man durchaus mit mehr Kindern in einem Raum sein. Natürlich sind großräumige Bewegungen nur in großen Räumen möglich, diese dürfen dann auch nicht vollgestopft sein mit Geräten und Material. Aber hier ist auch der gesunde Menschenverstand gefragt.
Kerstin Pack:
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Elementarpädagogik?
Wolfgang Beudels:
Dass neben anderen Bildungsbereichen, Bewegung in all ihren Dimensionen in der Kita vermittelt bzw. angeboten wird und dass das Wissen und die Kompetenzen dazu in Ausbildung und Fortbildung erworben werden kann, in Schule und Hochschule, dass kindliche Bewegung eben als ganz, ganz wichtiger Bildungsbereich gesehen wird. Aber auch, dass Bewegung und Spiel als kindgemäße und zur Kindheit gehörende Tätigkeiten und Handlungen gesehen und nicht immer nur auf Zukunft hin reflektiert werden. Dass Nachlaufen, dass Klettern, dass Hopsen usw. nicht immer nur unter pädagogischer Perspektive gesehen werden, im Sinne „Was hat das Kind davon für die Zukunft?“, sondern auch Tätigkeiten wie Matschen, Rollen, sich Rumkugeln als Ausdruck elementarer kindlicher Aktivität akzeptiert werden. Es liegt meiner Ansicht nach eine große Gefahr darin, das ganze Geschehen in der Kita immer nur dem Lernen unterzuordnen und auf Schule hin auszurichten. Es mehren sich die Stimmen, die sagen: „Wir müssen aufpassen, dass das nicht das Ende der Kindheit bedeutet“ So würde der Bildungsbereich „Bewegung" zu einem Schulfach degradiert werden, eine Tendenz, die man in den anderen Bildungsbereichen leider auch immer mehr beobachten kann.
Kerstin Pack:
Ist dieses Forschungsprojekt ein erster Schritt in Richtung „Wir können damit auch etwas verändern in der Aus- Fort-und Weiterbildung der frühpädagogischen Fachkräfte an Fach-und Hochschulen?“
Wolfgang Beudels:
Ich glaube, dass wir so viel Datenmaterialgesammelt haben, quantitativ wie qualitativ, dass wir handfeste, praktisch umsetzbare Vorschläge für die Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften erarbeiten können im Sinne eines Qualifikationsprofils.
Kerstin Pack:
Wie aussichtsreich ist auf einer Skala von 0-10, dieses Ziel in den nächsten zwei Jahren zu erreichen?
Wolfgang Beudels:
Das Bildungssystem ist naturgemäß ein sehr träges System. Ich hoffe aber, dass mit der zunehmenden Akademisierung pädagogischer Fachkräften auch Beschleunigungseffekte ausgelöst werden können. Wichtig ist, dass die Ergebnisse des Forschungsprojekts nicht in einer Schublade verschwinden. Wir haben jedoch meines Erachtens schon viel Öffentlichkeit hergestellt, z.B. über Publikationen und Fachtagungen. Dazu gibt es auch eine interaktive Literaturdatenbank zum Thema „Bewegung in der Kindheit“ - LitBik, worüber auch ein Austausch von pädagogischen Fachkräften stattfinden kann…. Es ist Einiges in Bewegung gekommen!
Kerstin Pack:
Vielen Dank für das Interview!
Prof. Dr. Wolfgang Beudels, Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften. Lehramt für Sport und Geschichte Sekundarstufe I und II. Bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund im Fach Bewegungserziehung und Bewegungstherapie. Seit vielen Jahren als Referent für verschiedene Institutionen in der Fort- und Weiterbildung von pädagogischen und therapeutischen Fachkräften tätig. Mitarbeiter im „Förderverein Psychomotorik e.V. Bonn" und 2. Vorsitzender des Fördervereins „Bewegungsambulatorium der Universität Dortmund". Mitwirkung in verschiedenen nationalen und internationalen Projekten.Kontakt: beudels@hs-koblenz.de
Kerstin Pack, B.A. Bildungs- und Sozialmanagement, staatlich anerkannte Erzieherin, ist Mitarbeiterin im Bildungsbüro/Regionalen Bildungsnetzwerk des Oberbergischen Kreises. Sie ist Trainerin für frühpädagogische Fachkräfte und Redakteurin bei www.ErzieherIn.de, dort verantwortlich für die Facebook-Seite. Ehrenamtlich ist sie im Vorstand des Vereins zur Förderung von Gesundheit, Sport und Familie tätig. Kontakt: Kerstin.Pack@socialnet.de
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