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Zu wenig Inklusion
Die Bilanz ist nicht berauschend: Rund 70 Prozent der Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf (6,2 Prozent aller Kinder) besuchen in
Deutschland nach wie vor Förderschulen, nur knapp 30 Prozent werden
integrativ in den Regelschulen gefördert. So die jüngsten nüchternen
Zahlen aus dem Nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2012.“
Sie belegen aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie
und Jugendmedizin (DGSPJ), dass die 2009 in Kraftgetretene UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderung für die sonderpädagogische
Förderung in Deutschland immer noch nicht richtig Tritt gefasst hat.
Die Quote der in Regelschulen inkludiert geförderten Kinder ist heute
zwar doppelt so hoch wie noch im Schuljahr 2000/2001. Aber diese
Vergleichswerte liegen nun auch schon über zehn Jahre zurück.
Vor allem in den Schwerpunktbereichen Sprache, geistige, emotionale und
soziale Entwicklung ist die „Förderschul-Besuchsquote“ stetig
angewachsen, stellt Dr. Ulrike Horacek, Vorstandsmitglied in der DGSP,
fest. Lediglich in Thüringen und Schleswig-Holstein zeichnen sich laut
Horacek „echte“ Verschiebungseffekte in Richtung inklusive Beschulung
ab.
Doch was bedeuten diese Globalzahlen nun für betroffene Kinder und ihre
Familien? Um dies herauszufinden, sind im Rahmen einer
Dissertationsarbeit an der Universitäts-Kinderklinikum Ulm in der
„Sektion Sozialpädiatrisches Zentrum und Kinderneurologie“ 155 Eltern
von betroffenen Schulkindern und 54 Eltern von Vorschulkindern befragt
worden. Dabei zeigt sich, dass die meisten Eltern von Kindern mit
sonderpädagogischem Förderbedarf auch in Deutschland einem gemeinsamen
Unterricht von Kindern grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Dabei
müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: kleine Klassen,
speziell ausgebildete Lehrer und die Wohnortnähe. Bei Eltern von
Kindern, die schwerwiegendere Beeinträchtigungen haben, kommen weitere
Voraussetzungen (Einzelbetreuung, rollstuhlgerechte Einrichtung, Pflege-
und spezielle Therapieangebote) hinzu.
Mehrheitlich befürworten Eltern von Vorschulkindern mit leichteren
Beeinträchtigungen den Besuch einer Regelschule, auch wenn 60 Prozent
von ihnen eine Integrationshilfe benötigen. Sehr viel skeptischer
bewerten die meisten Eltern einen Regelschulbesuch bei schwereren
Beeinträchtigungen ihrer Kinder. Diese fühlen sich auf einer
Förderschule meist gut aufgehoben, weil das Lerntempo langsamer ist,
Freundschaften leichter geschlossen werden können und die Lehrer
verständnisvoller sind. Immer noch werden Kinder in Förderschulen nach
Einschätzung der Eltern allerdings häufiger stigmatisiert. Als
vorteilhaft wird eine Regelschule aber nur dann angesehen, wenn gezielte
und fachlich geschulte Betreuungsfachkräfte für das Kind zur Verfügung
stünden. Diese müssen (Einzel)-Förderungen, Integrationshilfestellungen
und im Bedarfsfall auch spezielle medizinisch-pflegerische Leistungen
sicherstellen. Diese inklusionsfördernden Rahmenbedingungen sind nach
den Ergebnissen der Ulmer Studie selbst in Förderschulen nicht
selbstverständlich und in Regelschulen gar die Ausnahme, kritisiert
Ulrike Horacek.
Um den allseits eingeforderten Inklusionsgedanken aber auch in den
Regelschulen leben zu können, fordert die DGSPJ im Einzelnen: Inklusion
muss als Aufgabe für die gesamte Gesellschaft begriffen und umgesetzt
werden. Bereits in Krippen und Kindergärten müssen vermehrt
inklusionsfördernde Rahmenbedingungen bereitgestellt werden. Dazu
gehören vor allem nicht zu große Gruppen und eine ausreichende Zahl
qualifizierter Betreuungskräfte. In den Regelschulen, die Inklusion
umsetzen, ist die fachliche Qualifizierung des pädagogischen Personals
im Hinblick auf die speziellen gesundheitlichen Besonderheiten der
Kinder sicher zu stellen. Dazu sind umfassende Investitionen in die
Lehrerausbildung und eine Anpassung der Gehälter unabdingbar. Die
deutlich zu verbessernde fachliche Beratung der Eltern bei der Schulwahl
sollte gerade auch im Hinblick auf die geforderte Stärkung des
Elternwahlrechts durch unabhängige Fachleute erfolgen: zum Beispiel im
Schulärztlichen Dienst der Gesundheitsämter oder den Sozialpädiatrischen
Zentren. Dabei müssen verstärkt gesundheitliche und psychosoziale
Aspekte berücksichtigt werden. Auch Kinder mit komplexen
Mehrfachbehinderungen oder mit erhöhtem Förderbedarf bei der geistigen
Entwicklung sollten in Modellklassen von Regelschulen gefördert werden
können, die im Erfolgsfall langfristig auch ausreichend finanziert
werden müssen.
Quelle: ots-Originaltext: Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 10.9.2012