viele Hände im Sand, die aufeinander ausgerichtet sind

Zur Aufsichtspflicht von ErzieherInnen

Roger Prott

19.04.2011 Kommentare (0)

DIN Quichotte

Aufsichtspflicht aktuell. Wer kämpft tatsächlich gegen Windmühlen? Kann der Autor am Schreibtisch den Kampf gegen die Hochsicherheitsexperten gewinnen und ihrem unermüdlichen Streben nach Sicherheit Einhalt gebieten? Oder kämpft das Deutsche Institut für Normung (DIN) mit allen anderen Sicherheitskräften einen aussichtslosen Kampf gegen die Risiken des Lebens? Und wer zwingt uns, unsinnigen Vorgaben bedingungslos zu folgen? Ein Vorabdruck aus dem Buch: Aufsichtspflicht in Betrifft Kinder Nr. 3/2011, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Der Anlass

Mich erreichte eine beunruhigende Information. Sie bestand zunächst nur in der Behauptung, in Deutschland dürften Kinder unter drei Jahren nie aus den Augen gelassen werden. Außerdem müssten, um diese Verpflichtung besser erfüllen zu können, im Außengelände von Kindertageseinrichtungen neue Kleinkindbereiche durch Zäune abgeteilt werden. Als Beleg wurde mir der folgende Text vorgelegt:

"In Deutschland besteht für Kinder, insbesondere für Kinder unter drei Jahren, eine gesetzliche Aufsichtspflicht (BGB), die nur dann erfüllt werden kann, wenn Kinder unter drei Jahren begleitet werden und die Begleitperson mitbestimmen kann, ob und welches Gerät vom Kind benutzt werden kann/darf."[1]

Daraus, so wurde mir versichert, wird bei den so genannten Begehungen zur Erteilung oder Überprüfung von Betriebserlaubnissen eindringlich die – angeblich – notwendige vollständige Überwachung der Kinder und Anwesenheit der Erzieherinnen abgeleitet. Und aus der Setzung der vollständigen Überwachung wiederum wird die Einzäunung separater Kleinkindbereiche auf dem Kindertagesstättengelände gefordert. Beleg hierfür:

"Die bisherigen Erfahrungen der Unfallkasse NRW … haben gezeigt, dass es sinnvoll und angemessen ist, Spielbereiche für diese Altersgruppe abzugrenzen und einzufrieden. Organisatorische und aufsichtsrechtliche Fragestellungen werden dadurch positiv beeinflusst und die Belastungen des pädagogischen Personals reduziert …

Zusätzlich besteht in Deutschland die gesetzliche Verpflichtung, Kinder unter drei Jahren auf Spielplätzen zu beaufsichtigen."[2]

Zum Inhalt und sachlichen Gehalt wird später Bezug genommen. Zunächst einmal gilt es, die Beteiligten vorzustellen. Wer sind die Autoren der Texte, wer die Vermittler, wer die Empfänger?

Die Beteiligten

Die Quelle, auf die sich letztlich alle berufen, heißt DIN. Jedes Schulkind kennt „Dinavierbögen“ oder korrekter ein Blatt Papier im Format A 4 des Deutschen Instituts für Normung e.V., kurz DIN A 4. DIN kann sowohl für das Institut stehen, als auch für die Deutsche Industrienorm, meist mit einer Nummer zum besseren Einordnen ergänzt. Die DIN werden, das ist eine Folge des Zusammenwachsens in Europa, nach und nach abgelöst durch Europäische Normen (EN), welche manchmal weitgehend identisch mit den vormaligen deutschen Regelungen sind, manchmal auch ergänzend oder korrigierend wirken. Das DIN gibt Selbstauskunft:

"Normen sind Regeln der Technik, die grundsätzlich empfehlenden Charakter haben und deren Anwendung daher freiwillig ist. Sie können jedoch verbindlichen Charakter durch vertragliche Vereinbarung oder auch Bezugnahme durch den Gesetzgeber erhalten." [3]

Normen spiegeln den Stand der Technik, den wünschenswerten Stand der Umsetzung und Anwendung. Sie sind nicht Gesetz. Sie können jedoch wichtige Informationen enthalten darüber, was in den normierten Bereichen technisch angemessen ist. Ca. 3000 Normen sind es allein für die deutschen Verbraucher. Papiergrößen gehören dazu, die physikalischen Eigenschaften von Zahnbürsten und eben auch Sicherheitsnormen für Spielgeräte und Spielplätze. Die DIN sind in weiten Bereichen Selbstverpflichtungen der deutschen Industrie. Das DIN wirkt als Lobby der deutschen Industrie im Inland wie für den Export.

Ebenfalls beteiligt ist die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen. Ihre Sicherheitsexperten berufen sich auf die DIN und die dazugehörigen Erläuterungen, und auch das obige Zitat übernimmt fast wörtlich Aussagen von dort. Die Unfallkassen (der Länder) sind die Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung. Ihre Anordnungen haben zum Teil gesetzlichen Charakter. Das gilt jedoch nicht für alle Äußerungen, Empfehlungen oder Verlautbarungen, ob sie nun offiziell durch die Institution Unfallkasse oder ob sie nur von einzelnen Vertretern – als deren persönliche Meinungsäußerung – an die Öffentlichkeit gelangen.

Damit bin ich bei einer Unterscheidung angelangt, die in diesem Zusammenhang äußerst wichtig ist. Wie bei allen Arbeitsgebieten, die unmittelbar von der Art abhängen, wie die Leistung erbracht wird, kommt es vor, dass die Ausführung der Aufgaben mehr als zulässig oder offiziell gewünscht von Einzelpersonen interpretiert werden. Manchmal arbeiten sie zu lasch, manchmal überziehen sie und schießen über Auftrag und Ziel hinaus. Das gibt es bei Kellnern, Verkäuferinnen, Friseuren, Erzieherinnen und auch bei den Mitarbeitern der Unfallkassen vor Ort. Und schließlich trifft das auch auf Trägervertreter von Kindertageseinrichtungen zu, auf Fachberater und Fachberaterinnen mit und ohne Weisungsbefugnis, auf Qualitäts- und so genannte Sicherheitsbeauftragte; gemeint sind Menschen, die im pädagogischen Feld als Pädagogen Multiplikatorenfunktionen ausüben und auf mindestens einer hierarchischen Ebene über den Kindertageseinrichtungen für die Entwicklung des pädagogischen Angebots verantwortlich sind.

Auch manche von ihnen sind Beteiligte in dieser Fallstudie. Sie tragen die berichteten Informationen weiter oder lassen sie unkommentiert in die Tageseinrichtungen gelangen. Sie tragen zur Verunsicherung und zur Desorientierung der Erzieherinnen bei. Trotz ihrer Verantwortung für Entwicklung bremsen sie, wirken an Einschränkungen mit.

Die sachliche Klarstellung

In beiden Zitaten finden sich schwerwiegende Fehler. Zum einen werden Verkehrssicherungspflichten und Verpflichtungen im Rahmen der Aufsichtspflicht miteinander vermischt. Das eine hat im Grundsatz mit dem anderen rechtlich nichts zu tun.

Der andere Fehler ist genau genommen ein doppelter. Es heißt, in Deutschland bestehe insbesondere für Kinder unter drei Jahren eine gesetzliche Aufsichtspflicht. Das stimmt nicht. Die Aufsichtspflicht besteht nach § 1631 BGB für alle Kinder von Geburt an bis zur Volljährigkeit – und zwar gleichermaßen. Dass verschiedene Faktoren die Form der jeweiligen Beaufsichtigung beeinflussen und dass das Alter der Kinder ein Faktor unter vielen ist, ändert nichts an der Tatsache, dass das Recht und die Pflicht der Eltern bei der Ausübung der Personensorge in Inhalt und Ziel gleich sind.

Völliger Unsinn ist der Nebensatz, nach dem die Aufsichtspflicht nur dann erfüllt werden kann, wenn Kinder unter drei Jahren begleitet werden. Die gesetzliche Aufsichtspflicht ist gerade nicht festgelegt, sie kann nicht „nur dann … wenn“ erfüllt werden. Die Aufsichtspflicht ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und darum gerade nicht normiert und nicht festgeschrieben. Im Zitat wird der Versuch unternommen, eine unzulässige Verbindung herzustellen zwischen Verkehrssicherungspflichten, die in der Verantwortung von Betreibern von Spielplätzen und Spielplatzgeräten liegen, mit den Aufsichtspflichten in der Verantwortung der Personensorgeberechtigten und einer bestimmten Form der Aufsichtsführung, nämlich Begleitung im Sinne von persönlicher Anwesenheit. Damit ist die Aussage nicht nur sachlich falsch. Mit ihr wird auch in den Kompetenzbereich der Personensorgeberechtigten eingegriffen. Mit deutlichen Worten: Hier maßen sich zwei Institutionen fremde Entscheidungskompetenzen an.

Was für den Kompetenzbereich der Eltern gilt, hat Auswirkungen auf die Kompetenzen von Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen. Anlass für diesen Artikel war doch, dass ihnen eindringlich gesagt wurde, sie dürften die Kinder nie aus den Augen lassen und Kinder unter drei Jahren dürften sich nur in einem umzäunten Gebiet aufhalten. Besuchen Kinder mit Wissen ihrer Eltern und auf vertraglicher Grundlage eine Tageseinrichtung, so übernehmen Erzieherinnen die Verantwortung im Rahmen der Aufsichtspflicht. Erzieherinnen üben diese Pflicht an Stelle der Eltern im Rahmen ihres pädagogischen Auftrags und ihrer pädagogischen Kompetenz aus. Mit ihren Vorgaben greifen DIN und Unfallkasse NRW demnach nicht bloß in elterliche Kompetenzen, sondern auch in die pädagogischen Entscheidungskompetenzen der Erzieherinnen ein. Wären Erzieherinnen Beamte, müsste man von Amtsanmaßung sprechen.

Es erinnert an das Kinderspiel „Stille Post“. Einer flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr und am Ende kommt etwas an und heraus, was mit dem Ursprungstext kaum in Verbindung zu bringen ist. Die Unfallkasse NRW schreibt vorsichtig, dass ihre bisherigen Erfahrungen den Sinn und die Angemessenheit von abgegrenzten und eingefriedeten Spielbereichen für Kinder unter drei Jahren gezeigt hätten. Manche Träger sehen sich nun unter Druck, einen Zaun zu ziehen, wenn sie ihre Kindergärten für jüngere Kinder als bisher öffnen; Erzieherinnen verlangen danach. Handelt es sich hier um Fälle, in denen die Vertreter der Unfallkasse zu massiv auftreten und die Vorgaben ihres Arbeitgebers schärfer auslegen, als sie gemeint sind? Handelt es sich um vorauseilenden Gehorsam und Fehlinterpretation der Träger, wenn sie bei Abgrenzung und Einfriedung ausschließlich an einen Zaun denken? Ist es die Unsicherheit von Erzieherinnen, die bisher nur wenig Erfahrung mit Kindern unter drei Jahren gemacht haben und häufig auch nicht ausreichend darauf vorbereitet wurden?

Vielleicht handelt es sich nur um ein weiteres Sprachproblem. Die Broschüre zur Planung und zum Betrieb von Spielplätzen auf der Basis der DIN 18034[4] spricht von abgesonderten Räumen im Außengelände von Kindertageseinrichtungen. Und auch auf öffentlichen Spielplätzen sollen gegensätzliche Nutzungsarten (zum Beispiel Bewegung und Rückzug) räumlich getrennt werden. Von Zäunen ist nirgends die Rede – schon gar nicht innerhalb des Außengeländes einer Einrichtung.

Genau genommen trifft diese Aussage auch auf die Umfriedung zu, die das Gelände der Kindertageseinrichtung vom Draußen trennt. In der Tat gibt es immer noch Kindergärten, die „nur“ durch eine Hecke vor der Außenwelt geschützt sind. Sie zeichnen sich nicht durch überdurchschnittliche Unfall- oder Weglaufraten aus. Offenbar ist gute Pädagogik in dieser Hinsicht der Einzäunung ebenbürtig.

Die Empfehlung der Unfallkasse NRW wurde mit den „bisherigen Erfahrungen“ begründet. Das gibt zu denken, wenn der Text vom August 2009 stammt. Alle Fachleute wissen, dass die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen bis vor wenigen Jahren auf erschreckend kinder- und familienfeindlichem Versorgungsniveau lag. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise gab es im Jahr 2002 nur 2,1 Plätze pro 100 Kinder.[5] Die meisten dieser Plätze standen in altersgemischten Gruppen (0-6 Jahre) zur Verfügung. Dort gab es keine abgegrenzten Räume für die Jüngsten. Das hätte dem pädagogischen Konzept widersprochen.

So drängen sich mir die folgenden Überlegungen auf: Von welchen Erfahrungen geht die Unfallkasse NRW wohl aus und wie breit kann die dortige Erfahrungsbasis überhaupt sein, um eine einigermaßen qualifizierte Aussage treffen zu können? In den Bundesländern Hamburg und Berlin, die über viele Jahrzehnte Erfahrungen mit der Krippenbetreuung haben, kommen bestimmt nicht viele Leute auf die Idee, erneut Zäune aufzustellen. Die gab es zwar bis in die siebziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts, doch heute findet man nur noch vereinzelt Reste davon – und nur mit der Funktion von Raumteilern. Sie schaffen ruhige Flächen, doch jedes Kind kommt gut drum herum. Zäune zwischen den Bereichen für die Kinder in den ersten drei Lebensjahren und die drei- bis sechsjährigen gab es obligatorisch auch bis 1989 in der DDR. Das lag schon an der unterschiedlichen organisatorischen Zuordnung. Krippen gehörten zum Gesundheitswesen, Kindergärten zum Bildungsbereich. Nach der Wende wuchs auch hier zusammen, was zusammen gehört. Anders als in NRW die Unfallkasse, wünscht sich nur eine Minderheit abgrenzende bauliche Maßnahmen in Ex-DDR-Krippen zurück. Welches pädagogische Konzept wohl der Unfallkasse vorschwebt? Mit dem Kinderbildungsgesetz und der Bildungsvereinbarung in NRW kann es nichts zu tun haben.

Nicht einmal der zweite Satz aus dem Zitat der Unfallkasse NRW trifft vollständig zu, obwohl der doch so gut gemeint ist: „Organisatorische und aufsichtsrechtliche Fragestellungen werden dadurch positiv beeinflusst und die Belastungen des pädagogischen Personals reduziert …“ Die Organisation wird vermutlich vereinfacht, weil Zuständigkeitsregelungen auch räumlich klar definiert werden können. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass die Zusammenarbeit der Erzieherinnen durch räumliche Trennung nicht erleichtert wird. Man muss nämlich für jeden der Bereiche eine Aufsichtsperson bestimmen, obwohl eine einzige durchaus genügen könnte, wenn das Gelände nicht geteilt wäre. Bei knappem Personalstand ist das nicht unbedingt einfach zu organisieren.

Aufsichtsrechtliche Fragestellungen werden nur dann positiv beeinflusst, wenn man Aufsicht mit Absicherung gleichsetzt. Eine Aufsichtsführung, die dem Ziel der freien Entfaltung verpflichtet ist und Sicherheit der Kinder durch Selbständigkeit anstrebt, wird behindert. Bezeichnend für die Dominanz des Absicherungsdenkens ist, dass pädagogische Überlegungen und die Unterstützung des pädagogischen Personals bei ihrer Hauptaufgabe hier nicht vorkommen. Wieder einmal werden Nebenpflichten, die die Erfüllung der Hauptaufgaben Bildung und Erziehung unterstützen sollen, zum Selbstzweck erhoben. Es ist zu bezweifeln, ob die Belastungen des pädagogischen Personals auf diese Weise reduziert werden, denn gleichzeitig wird doch die ununterbrochene Beobachtung der Kinder gefordert. Im Übrigen halte ich es nicht für vertretbar, wenn die Belastung der Erzieherinnen durch im internationalen Vergleich nicht zufriedenstellende Rahmenbedingungen mittels Einschränkung und Bewachung der Kinder reduziert werden soll.

Vermutungen zu Hintergrund und Wirkung solcher Aussagen

Können die zwei zitierten Aussagen wirklich so große Wirkung zeitigen? Es sieht so aus. Die mir berichteten Wirkungen sind gravierend, schränken Kinder, Erzieherinnen und Träger ein. Sie kosten viel Geld, das anderswo fehlt. Und das hier vorgestellte Beispiel steht stellvertretend für ähnliche in anderen Bundesländern.

In der hier zitierten Broschüre des Deutschen Instituts für Normung wird bis zur Seite 10 ganze fünf Mal der Sachverhalt mit der elterlichen Aufsichtsverpflichtung falsch, zumindest schief, dargestellt. Erst auf Seite 189 folgt die Richtigstellung:

"Eine Altersgrenze ist im Gesetz nicht enthalten, die Aufsichtspflicht ist dem Lebensalter des Kindes und seiner „Reife“ anzupassen."

Wie um diese Information sofort zu verwischen, folgen gleich im Anschluss daran wieder zwei falsche Aussagen, die man bestenfalls als völlig unverbindliche Meinungsäußerung durchgehen lassen mag:

"Die Aufsichtspflicht kann von den Eltern übertragen werden an Erwachsene (Großeltern, Verwandte, Nachbarn, Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen), auch an Jugendliche, wenn sie entsprechend zur Sicherheitsvorsorge in der Lage sind (etwa ab zwölf bis vierzehn Jahren).

Bei Kindern unter drei Jahren wird eine ständige Aufsicht bei Besuchen von Kinderspielplätzen – beim Spiel in unterschiedlichen Reichweiten (Sichtkontakt – manchmal auch Griffkontaktmöglichkeit) – gefordert werden müssen."

Weder ist bei der Delegation der Aufsichtspflicht eine pauschale Altersbegrenzung rechtlich vorgesehen, noch ist sie sinnvoll (bislang siehe Seite 178f). Und zur angeblichen Verpflichtung einer ständigen Aufsicht, die im Zitatzusammenhang als Beobachtung zu lesen ist, wurde bereits vieles hier ausgeführt.

Zwei halbe Wahrheiten sind eine ganz Lüge, sagt man. Wenn das stimmt, kommt hier einiges zusammen. Um dem Fass die Krone aufzusetzen wird in der so richtungsweisenden Broschüre nicht einmal der § 1631 Absatz 1 BGB richtig zitiert:

"Die Personensorge (der Eltern) umfasst insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthaltsort zu bestimmen."[6]

Falsch ist die Reihenfolge: die Pflicht steht im BGB vor dem Recht. Bereits 1998 wurde das BGB geändert! Elf Jahre später wurde es immer noch bzw. wieder falsch zitiert. Und selbstverständlich heißt es im BGB auch nicht seinen Aufenthaltsort zu bestimmen, sondern seinen Aufenthalt. Vielleicht erscheint dies pingelig. Doch für mich ist es das nicht. Wenn an entscheidenden Stellen so viel Falsches steht, wie kann ein Text dann ernst genommen werden?

Diese Frage zielt auf die Rezipienten. Doch noch möchte ich beim DIN bleiben. Schlampige Arbeit als Ursache möchte ich ausschließen, das würde doch von großer Überheblichkeit zeugen. Auch an Inkompetenz der Autoren mag ich nicht glauben. Wie in jedem Beruf gibt es auch bei Juristen und Spielplatzplanern mehr oder weniger qualifizierte Menschen, doch waren so viele beteiligt, dass es vermessen wäre zu unterstellen, sie hätten sich alle zugleich geirrt. Die sicherlich einfachste Möglichkeit besteht wieder darin, dass unterschiedliche Begriffe für den gleichen Sachverhalt gebraucht werden. Immerhin sehen sich die Autoren als Anwälte für die Interessen des Kindes. Dieser Begriff ist sicherlich ebenso unklar wie der unbestimmte Rechtsbegriff Aufsichtspflicht. Die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Interpretation ist entsprechend groß.

Meine Überlegung gehen jedoch in die Richtung zielgerichteter Darstellung. Es wird ein bestimmter Zweck verfolgt. Hinter der Broschüre steckt ein Interesse – vielleicht auch mehrere. Für diese Vermutung gibt es Indizien.

Das DIN als Industrielobby (logisch ist dies eine Unterüberschrift zu „Vermutungen“, aber praktisch sollte es nicht weiter gegliedert werden, oder?)

Einen ersten Hinweis erhält man durch das Lesen der falschen Behauptung und den unmittelbar darauf folgenden Satz: S. 6

"In Deutschland besteht für Kinder, insbesondere für Kinder unter drei Jahren, eine gesetzliche Aufsichtspflicht (BGB), die nur dann erfüllt werden kann, wenn Kinder unter drei Jahren begleitet werden und die Begleitperson mitbestimmen kann, ob und welches Gerät vom Kind benutzt werden kann/darf."

Deswegen müssen die Anforderungen von DIN EN 1176 in diesem Zusammenhang in Deutschland nicht angewendet werden.[7]

In Deutschland müssen die Anforderungen der Europäischen Norm (EN) nicht angewandt werden. Deutschland hat eine Ausnahme erwirkt. Es ist das einzige Land, das bei der Norm für Spielgeräte, die für die schutzbedürftigsten, weil unerfahrensten, Kinder gebaut werden, einen Sonderweg geht. Sind wir vorzüglicher Vorreiter oder schlapper Schluss, wenn wir die einzigen sind?

Nur wenig weiter zu lesen trägt zur Klärung bei:

"Weil es die Aufsichtspflicht in Deutschland gibt, müssen die für Deutschland gebauten Spielplatzgeräte keinen „erschwerten“ Zugang haben…"

Die Bestätigung folgt:

"Alle Anforderungen bezüglich Kinder unter drei Jahren, die in dieser Ausgabe durch „leicht zugänglich“ ersetzt worden sind … gelten nicht für Deutschland aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung, Kinder auch auf Spielplätzen zu beaufsichtigen."

Aller guten Dinge sind drei:

"Die Anforderungen an Geräte für Kinder unter 36 Monaten … sind zum Teil sehr restriktiv …

Würde man auch in Deutschland die Europäische Norm in den betreffenden Punkten durchgängig anwenden, müssten viele Geräte umkonstruiert werden …"

Das wäre natürlich hart für die deutsche Spielgeräteindustrie. Da spannt man doch lieber Eltern und Erzieherinnen vor seinen Karren. Damit das klappt, schieben die Autoren eine weitere falsche Behauptung, die zugleich eine versteckte Drohung ist, nach:

"Die elterliche Aufsichtspflicht ist in Deutschland gesetzlich verankert. Entsprechend verhält sich die Rechtsprechung bei Unfällen. Hier können die Eltern oder Begleitpersonen eventuell verantwortlich werden, wenn ein Unfall eines Kindes unter 36 Monaten durch grobe Fahrlässigkeit der Begleitperson geschieht."

Was soll das heißen: Eltern können eventuell verantwortlich werden? Ist das schlimm? Eventuell kann man im Lotto gewinnen. Leider sind die Chancen, vom Blitz getroffen zu werden, zweimal höher, als einen Sechser zu landen. Tatsache ist, dass Eltern verantwortlich sind.(bislang siehe Seite 35f.), nicht nur bei einem Unfall, sondern jederzeit bei ihrem minderjährigen Kind. Zur Verantwortung gezogen werden, ist die alltagssprachliche Redewendung, die weder bei Kindern unter 36 Monaten den Sachverhalt korrekt ausdrückt, noch ihn bei grober Fahrlässigkeit zutreffend einsetzen lässt. Wenn dann noch in einem Satz Eltern und Begleitpersonen getrennt aufzählt werden und am Ende ausschließlich die Begleitperson bei grober Fahrlässigkeit haften soll, dann wird der Unsinn so kompliziert, dass eine noch weiter gehende Analyse besser unterbleibt. Nur einen Aspekt möchte ich nochmals erwähnen: Die Verpflichtung zur Aufsichtsführung orientiert auf das pädagogische Ziel Selbständigkeit. Die Art der Aufsicht muss dem Ziel entsprechend gestaltet werden unter Wahrung von Sicherheitsaspekten. Dazu gehören der Schutz der Kinder ebenso wie der Schutz Dritter vor Schädigungen durch die Kinder. Eine Aufsichtsführung, die bloß auf die Absicherung der aufsichtspflichtigen Person hinausläuft, ist pervers. Der Gedanke an die Zielsetzung kommt in der obigen Formulierung nicht vor.

Dem Anschein nach, kreisen die Gedanken der Spielgeräteindustrie weniger um die Sorge für die Kinder als um die Sorge für den Produktionsaufwand:

"In den restlichen Ländern Europas ist die Rechtslage (für die Hersteller, RP) in diesem Punkt schwächer."

Deshalb gilt:

"Für den Export bestimmte Geräte müssen diesen Anforderungen jedoch immer genügen."

Zusammengefasst: In der Bundesrepublik Deutschland können als einzigem Land, in dem Euronormen gelten, Spielgeräte gebaut und vertrieben werden, die geringeren Anforderungen genügen. Die überall anders erforderliche – und offenbar auch technisch mögliche – konstruktive Sicherheit von Spielgeräten durch technische Lösungen wird hier ersetzt durch menschliche Arbeitsleistung, genannt Aufsicht. In anderen Ländern wird das Wohlergehen von Kindern so hoch eingeschätzt, dass strengere Industrienormen als bei uns gelten. Dort jedoch kommt die deutsche Industrie der Euronorm nach. Sie produziert entsprechende Geräte, denn sie will ja nicht vom Markt gefegt werden.

Widersprüche, Fallen und Fehler

Was ich bis jetzt nicht zu meiner Zufriedenheit klären konnte und wofür ich nun durch die Darstellung hier mir Hilfestellung durch Leserinnen und Leser erhoffe, ist der folgende Widerspruch.

Bereits in den 1980ern hieß es u.a. bei Feldmann[8], dass ein Spielgerät nicht absolut sicher sein muss. Weder ist das möglich, noch wäre es wünschenswert. Das erkennt auch das DIN an, darauf bezieht es sich ebenfalls. Ein Spielgerät muss nur innerhalb seines bestimmungsgemäßen Gebrauchs sicher sein. Ein Faktor der Gebrauchsbestimmung ist das Alter der Zielgruppe. Deshalb kann zum Beispiel ein Spielgerät für die Altersgruppe ab 14 Jahren aufwärts gewisse Risiken als Gebrauchsanreiz und Herausforderung aufweisen, die für jüngere bzw. weniger geübte Kinder als zu gefährlich eingeschätzt werden müssen. Die Forderung lautet nicht, solche Geräte auf öffentlichen Spielplätzen zu verbieten, sondern den Zugang so schwierig zu gestalten, dass Kinder, die nicht zur Zielgruppe gehören, das Gerät nicht benutzen können.

Dieser recht alte Grundsatz gilt einerseits immer noch, wie in den DIN-Broschüren nachzulesen ist. Andererseits wird vorgetragen, er gelte nicht für die Spielgeräte, die für Kinder im Alter unter drei Jahren vorgesehen sind. Mit eben dieser Begründung erreichte man die Ausnahme von der Euronorm. Um Geräte sicherer zu machen, d.h. dem ausschließlichen Gebrauch älterer, kompetenterer Kinder zu genügen und beispielsweise zu verhindern, dass kleine Kinder eine zu große Rutsche benutzen, genügt es oft, die untere Stufe zu entfernen. Der notwendige Schritt bzw. die Kletterleistung für den Gebrauch der Rutsche ist zugleich Prüfstein für die Geübtheit der Kinder. Wer diese Prüfung meistert kann mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Rutsche gefahrlos benutzen. Das rät im Übrigen auch die Unfallkasse NRW. Um den Zugang zu erschweren sollen zwischen Bodenfläche und Auftrittsmöglichkeit eine Differenz von 40 cm liegen. Dazwischen liegende Stufen etwa sollen entfernt werden.

Wenn dies alles so klar und einfach zu regeln ist, warum wird dann erst ein solcher Popanz aufgebaut? Weiß jemand eine Erklärung? Die einzige, die mir zurzeit verfügbar ist, nenne ich vorbeugende Absicherung. Das DIN möchte die Spielgeräteindustrie schützen, weil man meint, dass die europaweit geltenden Normen überzogen sind:

"Auf diese Weise wird den Herstellern von Spielplatzgeräten und den Aufstellern eine Verantwortung übertragen, die man allein durch technische Vorsorge nicht erfassen kann." [9]

 Die Argumentation des DIN gründet auf einer Falle. Der logische Fehler steckt in der Konstruktion der Norm, in dem was mit ihr geregelt werden soll. Einerseits geht es um alle Spielgeräte. Sie müssen – relativ – sicher sein. Andererseits geht es um spezielle Spielgeräte, welche auf Spielplätzen stehen.

Hier steht die Falle. Man kann sie erkennen, wenn die Spielplätze in drei Kategorien unterschieden werden: öffentliche und private und die dazwischen. Mangels eines offiziellen Begriffes bezeichne ich sie halb-öffentlich. Die öffentlichen Spielplätze sind die offenen, von allen nutzbaren, frei zugänglichen Orte, die dem Kinderspiel ausdrücklich gewidmet sind und auf denen meist Spielgeräte zu finden sind. Von den privaten Spielplätzen interessieren hier nur die in ungeteilter Verantwortung der Eltern als Aufsteller der Geräte im häuslichen Garten, nicht die gewerblichen Betreiber von Indoor-Spielplätzen oder ähnlichen, für die ein Eintrittsgeld zu entrichten ist.

Die Spielplätze in Kindertageseinrichtungen oder Heimen als Angeboten der Jugendhilfe bezeichne ich als halb-öffentlich, weil sie nicht frei zugänglich sind für jedermann bzw. alle Kinder, denn sie sind umfriedet und Zutritt hat im Prinzip nur, wer angemeldet wurde. Aber Zulassung und Betrieb dieser Spielplätze befinden sich auch in öffentlicher Verantwortung, das ist bei den kommunalen Einrichtungen besonders deutlich zu erkennen.

Weil es sich in beiden Fällen um Spielplätze handelt, die bestimmte Sicherheitskriterien erfüllen müssen und mit häufig denselben, auf jeden Fall aber normgerechten Spielgeräten ausgestattet sind, wird auch in aufsichtsrechtlicher Hinsicht nicht weiter unterschieden. Das ist falsch. Verkehrssicherungspflicht und Aufsichtspflicht dürfen nicht vermischt werden. Dies gilt, ob mit der Vermischung eine Kompetenzüberschreitung verbunden ist oder ob sie innerhalb der pädagogischen Verantwortung stattfindet.

Für Fragen der Aufsichtsführung sind weitergehende Überlegungen relevant. Öffentliche Spielplätze sind frei zugänglich, das ist ein entscheidendes Merkmal. Damit sind bestimmte Risiken verbunden, anderswo nicht. Kinder unterschiedlichen Alters und Entwicklung(sstandes) halten sich dort auf, manche in Begleitung der Eltern, andere nicht; die Spielkonstellationen der Kinder (Gruppen) entstehen zufällig; völlig fremde Personen haben Zugang auch zu Zeiten, bei denen keine Kinder anwesend sind; Hunde und andere Tiere können dorthin gelangen. Mit anderen Worten sind öffentliche Spielplätze für Kinder ein unsichereres Terrain im Vergleich zu halb-öffentlichen Spielplätzen, weil sie mehr Unwägbarkeiten aufweisen. Mindestens ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu. In der Regel können junge, ungeübte Kinder nicht gefahrlos dorthin gelangen. Zu gefährlich ist der Straßenverkehr, zu ungewiss ist, ob das Kind ankommen würde. Es ist daher wahrscheinlich, dass ein Kind unter drei Jahren nicht allein einen öffentlichen Spielplatz in der Nachbarschaft aufsuchen darf. Es wird also vermutlich dorthin begleitet. Auf dem Spielplatz spielt es, die Begleitperson setzt sich irgendwo hin, liest, oder macht irgendetwas anderes. Ob das Kind jederzeit im Blick ist oder nicht, entscheidet allein die Aufsichtsperson nach ihren eigenen Vorstellungen.

Demgegenüber ist ein halb-öffentlicher Spielplatz einer Kindertageseinrichtung etwas völlig anderes. Ein Spielplatz in einer Kindertageseinrichtung gleicht vielmehr einem zu Haus. Man braucht nicht erst dorthin zu gehen, Wohnzimmertür auf und raus, reicht völlig aus. Wie zu Haus, wenn man eins hat, kann es heißen: „Geh raus spielen!“ Die Geräte sind geprüft, das Gelände bekannt. Unbefugte halten sich dort nicht auf, auch von daher droht den Kindern keine Gefahr.

Es gibt im Hinblick auf die Aufsichtspflicht mit Sicherheit einen Unterschied, nämlich die Anzahl der Kinder. Die Größe der Kindergruppe und ihre Zusammensetzung sind ja Kriterien, die beachtet werden müssen. Ein weiteres Kriterium für die tatsächliche Aufsichtsführung hängt bereits mit der pädagogischen Konzeption zusammen. Es ist die Frage, ob sich die Kinder gegenseitig kennen und wie das in Bezug auf die Erzieherinnen ist. Werden die Kinder in geschlossenen Gruppen gehalten, kennen sie die Nachbarerzieherin nur wenig und diese die Kinder auch kaum, muss die Aufsicht anders organisiert werden als bei einer offenen Konzeption. Vergleichbares gilt ja, wenn die Kinder nur zum halbstündigen täglichen Freigang an die Luft kommen, im Gegensatz etwa zu einem anregungsreichen, naturnahen Freigelände, das als zentraler pädagogischer Ort der Selbsttätigkeit, Selbständigkeit und freien Entfaltung der Kinder dient. Als Schlagwort: der Waldkindergarten als Vorbild.

 Zu Haus sind die Eltern aufsichtspflichtig, in der Kita die Fachkräfte jeweils nach den gleichen Grundsätzen, jedoch nach verschiedenen Maßstäben. Wie es sich gehört, gestalten Eltern hie und Erzieherinnen dort die Aufsicht in eigener Verantwortung, d.h. auch in eigener Entscheidung darüber, wer wann wo mit wem was wie lange spielen darf.

Drei Fehler haben sich in die DIN-Broschüren in Sachen Aufsicht eingeschlichen. Argumentiert wird, dass in Kindertageseinrichtungen höhere Anforderungen an die Aufsichtsführung als zum Beispiel in offenen Einrichtungen gelten, weil die Kinder den Erzieherinnen bekannt sind. Zwar ist richtig, dass zum Beispiel auf pädagogisch betreuten Spielplätzen andere Voraussetzungen und andere Erfordernisse für die Aufsicht und die Verkehrssicherungspflichten zu berücksichtigen sind, doch ist es ja gerade die genaue Kenntnis der einzelnen Kinder und ihres Verhaltens im Zusammensein mit anderen, die gewisse Spielräume des freien unbeobachteten Spiels eröffnet. Die Kenntnis der Kinder und die Einschätzung ihrer Fähigkeiten sind wichtige Kriterien der Aufsicht. Wenn eine Erzieherin ein Kind überhaupt noch nicht kennt, muss sie seinen Freiraum enger ziehen, als wenn sie schon zwei oder drei Jahre seine Beziehungsperson ist. Die Vorteile begünstigen eindeutig die Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen.

Ein weiterer Fehler taucht immer wieder auf. Es ist das Missverständnis, dass die Aufsichtspflicht einzig oder nur vorrangig unter Sicherheitsaspekten zu bewerten und zu diskutieren ist. Nein, man kann durch zu enge Aufsichtsführung genauso gegen die Verpflichtungen verstoßen wie durch zu nachlässiges Verhalten. Das pädagogische Ziel der freien Entfaltung darf nicht verloren gehen.

Ein letzter Fehler in der Argumentationslogik scheint unausrottbar: Aufsicht ist Blickkontakt. Manchmal trifft das zu. Meist nicht. Die Art der Aufsichtsführung bemisst sich nach vielen Faktoren. Die Palette der Überwachung von Kindern ist vielfältig. Eine Einschätzung dessen, was notwendig und angemessen ist, steht einzig und allein der aufsichtspflichtigen Person zu. Sie trägt die Verantwortung. Niemand kann und darf sie ihr abnehmen. Niemand darf vorgeben, durch ein ganz bestimmtes Verhalten ist alles bestens geregelt. Damit werden Aufsichtspflichtige in die Irre geleitet. Deshalb sind die pauschalen Aussagen in der DIN-Broschüre und der Unfallkasse hierzu letztlich als gefährlich anzusehen.

Aufsichtspflicht heißt nicht, Kinder ununterbrochen beobachten zu müssen.

Aufsichtspflicht heißt:

• wissen, wo Kinder sich (ungefähr) aufhalten,

• wissen, was sie (wahrscheinlich) tun,

• damit sie sich und anderen keinen Schaden zufügen,

• auf jedes Kind achten.

 

Fach- und andere Kompetenzen, Motive und Interessen

Zu den Verfassern der DIN-Broschüren gehören Juristen und Landschaftsplaner. Die fehlerhafte Darstellung verschiedener Sachverhalte ist mir nur erklärlich, wenn ich bestimmte Interessen unterstelle.

Weil nicht alles, was gesetzeskonform ist, zugleich auch mit den Interessen der Versicherung konform ist, versuchen die Unfallkassen gern ihr generelles Interesse, möglichst wenige Schäden kompensieren zu müssen, durchzusetzen und greifen ebenfalls in fremde Kompetenzen ein. Meinungsäußerungen zu einer bestimmten Vorstellung von Aufsichtsführung, die in gewisser Weise als Anregung und zur Überprüfung dienen könnten, werden unversehens als Vorgaben und Vorschriften dargestellt. So wird der pädagogische Auftrag der Kindertageseinrichtungen missachtet.

Pädagogische Multiplikatoren können dem entgegentreten, können die Einflüsse filtern, können für Unterstützung und Orientierung der pädagogischen Praxis sorgen. Leider geschieht oft das Gegenteil. Das Hauptanliegen, so wird argumentiert, sei das Wohlergehen der Kinder, ihrem Schutz und ihrer Sicherheit müsse sich alles unterordnen. Auch das ist falsch, denn selbständige Kinder sind sicherer als Verbote und Einschränkungen. Hinzu kommt, dass Erzieherinnen durch falsche Informationen, denen die Fachleute in den eigenen Reihen nicht widersprechen, desorientiert und verunsichert werden. Desorientierende Vorgaben führen in aller Regel zu Unsicherheit, die von den Erzieherinnen auf die Kinder übertragen wird. Unsicherheit wird mitunter durch Rigidität kompensiert, mit wieder der Folge, dass Kinder eingeschränkt werden. Führt Desorientierung ausnahmsweise nicht zu Rigidität, sondern zu Leichtsinn, leiden die Kinder erst recht.

So kann der Weg zur Sicherheit der Kinder mit Sicherheit nicht aussehen. Wozu dient das dann? Zu den vermuteten Interessen gesellt sich das Motiv der Absicherung. Statt wirklich Sicherheit für und mit Kindern zu suchen, trachten Erwachsene nur nach persönlicher Absicherung. Risiko, nein danke! Wenn nichts passiert, sieht es so aus, als hätten sie ihre Arbeit gut gemacht. Dann brauchen sie sich nicht zu verantworten. Ärgerlich, aber immerhin nachvollziehbar, wenn Absicherungsexperten dies anstreben.

Ärgerlicher jedoch finde ich, wenn Fachkräfte der öffentlichen Erziehung da mitmachen, dies unterstützen oder gar verstärken. Warum machen die das: Lassen sich ins Bockshorn jagen, fragen weder nach der Qualität (Gesetz oder Meinungsäußerung?), noch nach den Quellen von Informationen, holen keine Gegenmeinung ein, schränken lieber Erzieherinnen ein, als mutig mit gesundem Menschenverstand selbst Position zu beziehen? Und warum vergessen sie darüber ihren Arbeitsauftrag? Nun richte ich meine Fragen offensichtlich an Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift, d.h. an Menschen, die sich für eine andere Sichtweise interessieren. Über Sie freue ich mich, es sind die anderen, die mir Sorge bereiten.

Niemand wird gezwungen, unsinnigen Vorgaben bedingungslos zu folgen, egal wie massiv sie vorgetragen werden. Jeder kann weitere Informationen einholen, zum Beispiel in den zitierten Broschüren weiter lesen. Niemand muss ängstlich auf die einschränkenden Passagen starren und dort verharren. Man kann lesen und nachfragen, wie denn solche Sätze zu den Einschränkungen passen: "Nicht unsere Spielräume sind gefährlich, sondern unerfahrene, ungeübte, unwissende Kinder." Oder wie die Einschränkungen mit der Feststellung übereinstimmen, dass die freie Natur wohl der beste Spielplatz wäre, wenn es sie noch gäbe, denn: "Eigentlich müssten somit alle Gefahren und Risiken, die wir in der ungeplanten Natur vorfinden, auch in gestalteten Spielräumen zulässig sein ...".[10] Eigentlich – da liegt schon die erste Einschränkung. Nur weil etwas künstlich geschaffen werden muss, sollen Menschen gezwungen sein, für höhere Absicherungsmaßnahmen als im Original zu sorgen? Merkwürdig.

Ein letztes Beispiel. Ab Seite 266 der eben zitierten DIN-Broschüre erhält man in einem Tabellenvergleich zwischen beaufsichtigten Flächen und öffentlichen Flächen die Maßstäbe und Rechtsgrundlagen für die Sicherheit am Beispiel des Landes Rheinland-Pfalz. Bezeichnenderweise werden genannt: die Vorschriften der Gesetzlichen Unfallversicherung nach SGB VII, die Unfallverhütungsvorschriften, Normen und Gerichtsurteile. Nicht aufgeführt werden das SGB VIII, das Kindertagesstättengesetz oder das Schulgesetz. Diese Rechtsgrundlagen erscheinen hier nicht einmal als Maßstab, geschweige denn als Orientierung. Niemand aber braucht Sicherheit als Selbstzweck.

Thomas Mörsberger war Leiter des Landesjugendamtes Baden, als er das Verhältnis von Pädagogik und so genannten Sicherheitsnormen beschrieb und die Kompetenzbereiche erklärte. Sinngemäß:

Das Landesjugendamt ist die Behörde, die befugt ist, Betriebserlaubnisse zu erteilen. Brandschutz- und andere Experten helfen uns, unsere Entscheidungen zu treffen. ABER die Entscheidungen treffen wir! Wir haben die Verantwortung über die Sicherheit/Zulässigkeit der baulichen und sonstigen Gegebenheiten und nehmen sie wahr – ob es den Vertretern der anderen Disziplinen passt oder nicht. Wenn wir allen Absicherungswünschen nachkommen würden, könnte der pädagogische Auftrag nicht erfüllt werden, dann müssten wir die Einrichtungen schließen. Wir treffen die Entscheidung in Abwägung der Gesamtsituation.

Darum befragen Sie bitte sehr intensiv und genau die Vertreter der Unfallkassen und alle sonstigen Absicherungsexperten. Fordern Sie sie durch Nachfragen heraus. Fragen Sie: „Mit welcher Befugnis tragen Sie Ihre Bedenken vor? Wie und womit begründen Sie ihre Position? Wo steht das?“ Bitten Sie um einen rechtsmittelfähigen Bescheid zu der mündlich geäußerten Auflage. Klären Sie die Kompetenzbereiche der Beteiligten. Sichern Sie allen die ihnen zustehenden Entscheidungskompetenzen. Entscheiden Sie selbst fachkompetent in Ihrem Bereich. Und denken Sie bitte stets daran:

Verordnungen, Richtlinien oder Auflagen, die dem Auftrag der Kita widersprechen, den Betrieb behindern und den Sinn der pädagogischen Veranstaltung 'Kindertagesstätte' außer Kraft setzen, müssen nicht eingehalten werden. Sie mögen 'in sich richtig' sein, aber sie sind insofern irrelevant, als ihre konsequente Einhaltung letztendlich die Schließung der Einrichtung bewirken würde. Das kann nicht der Sinn solcher Vorschriften sein. Sie dienen – ebenso wie die Aufsichtspflicht – nur dazu, dem pädagogischen Auftrag zu entsprechen und nicht ihn zu verhindern. Hierzu müssen immer wieder Auseinandersetzungen auf allen Ebenen geführt werden …

Das Prinzip der Auseinandersetzung mit dem immer neuen Versuch der Klärung von Sachverhalten zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Rechtsfragen …

Das Wesen der Pädagogik ist die Auseinandersetzung, um Entwicklungen zu ermöglichen und gemeinsame Wege gehen zu können.[11]

 

Anmerkungen

[1] Agde / Beltzig / Danner / Lorentzen / Richter / Settelmeier: Spielgeräte - Sicherheit auf Europas Spielplätzen. Erläuterungen in Bildern zu DIN EN 1176. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 4., vollständig überarbeitete Auflage 2009, S.6

[2] Unfallkasse Nordrhein-Westfalen: Sichere Kita. Siehe www.sichere-kita.de

[3] Agde / Degünther / Hünnekes: Spielplätze und Freiräume zum Spielen. Ein Handbuch für Planung und Betrieb. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2008, S.2

[4] Agde / Degünther / Hünnekes: Spielplätze und Freiräume zum Spielen. Ein Handbuch für Planung und Betrieb. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, S.95

[5] DJI: Zahlenspiegel 2005. München, S.113

[6] A.a.O. S.189

[7] Dieses und die folgenden Zitate bei: Agde / Beltzig / Danner / Lorentzen / Richter / Settelmeier: Spielgeräte - Sicherheit auf Europas Spielplätzen. Erläuterungen in Bildern zu DIN EN 1176. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 4., vollständig überarbeitete Auflage 2009, S.6ff.

[8] von Feldmann: Spiel und Recht. München 1980

[9] Agde / Beltzig / Danner / Lorentzen / Richter / Settelmeier: Spielgeräte - Sicherheit auf Europas Spielplätzen. Erläuterungen in Bildern zu DIN EN 1176. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 4., vollständig überarbeitete Auflage 2009, S.188

[10] Agde / Degünther / Hünnekes: Spielplätze und Freiräume zum Spielen. Ein Handbuch für Planung und Betrieb. Berlin, Wien, Zürich: Beuth Verlag. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2008, S.13

[11] Mörsberger / Prott: „Geht das denn überhaupt?“ Rechtsfragen bei der Entwicklung der Kindertagesstättenarbeit. In: Senatsverwaltung für Jugend und Familie Berlin: Perspektiven der Kindertagesstättenarbeit – Handlungsmöglichkeiten des Jugendamtes. Berlin 1994, S.52

Aus dem Buch von Roger Prott:

Aufsichtspflicht
Rechtshandbuch für Erzieherinnen und Eltern
216 Seiten
verlag das netz, Weimar, Berlin 2011
ISBN 978-3-86892-047-5
Euro 19,90

 

 

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